Drogenpolitik: Die ersten Missgriffe am Zürcher Letten

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«Bitte rufen Sie die Polizei nicht an, wenn Sie das Gefühl haben, ein Fixer oder ein Dealer werde zu hart angefasst», bat die Zürcher Stadtpolizei im Januar 1995 die Zürcher Bevölkerung. Und Roger de Weck, damals Chefredaktor des «Tages-Anzeigers», erteilte den PolizistInnen die Generalabsolution mit der Bemerkung, «es werde wohl nicht jedem Polizisten gelingen, die Verhältnismässigkeit zu wahren». Angesichts der offenen Drogenszene am Letten und deren anstehender Räumung waren nicht aufmerksame BürgerInnen gefragt, die dem Staat und seinen Organen auf die Finger schauten. Schnell Schluss machen, lautete vielmehr die Devise, hatte doch die offene Drogenszene die politischen Behörden und die Medien traumatisiert.

Die WOZ hatte der Drogenpolitik seit ihrer Gründung grosse Aufmerksamkeit geschenkt und setzte sich schon früh für ein Ende der Drogenprohibition ein. Der deutsche Publizist und Drogenexperte Günter Amendt hielt sich in jenen Jahren oft in Zürich auf und schrieb regelmässig für die WOZ. Diese hatte zudem gute Kontakte zur Drogenszene - unter anderem über ihre Fotografin Gertrud Vogler: Sie war eine der wenigen, die schon auf dem als «Needle Park» international berüchtigten Platzspitz beim Zürcher Hauptbahnhof wie auch später auf dem Gelände des stillgelegten Bahnhofs Letten das Vertrauen der Drogenszene besass.

Im Herbst 1994 hatte der Zürcher Stadtrat angekündigt, die offene Drogenszene zu schliessen. Permanente Polizeikontrollen, Rückführungen von Festgenommenen in ihre Heimatgemeinden und Verhaftungen, aber auch zusätzliche Kapazitäten in den Fixerstüblis sollten der offenen Zürcher Szene ein Ende setzen. Anfang 1995 traten die Bemühungen der Behörden in die letzte Phase. Während andere ihr Gewissen mit Wegschauen beruhigten, sammelte die WOZ Beobachtungen von polizeilichen Übergriffen: Angehaltene Junkies und Dealer wurden mit Pfefferspray traktiert, Kleider und Schuhe weggeworfen.

Die WOZ war auch dabei, als die Stadtpolizei während einer Razzia rund hundert DrogenkonsumentInnen mit Gummischrot zusammentrieb. Zuerst liess der Einsatzleiter die Medien - nicht nur die WOZ - gewähren. Aber später wollte er, dass seine Leute in Ruhe ihre Arbeit machen können: «Sie müssen gehen, wenn wir die Libanesen ausziehen.» Der zuständige Polizeivorstand Bobby Neukomm wollte zu diesen Praktiken nicht Stellung nehmen. Peter Niggli, damals grüner Gemeinderat, nannte sie eine «absolute Schweinerei».

Die Drogenszene war gleichzeitig anarchisch und hierarchisch. Sie anerkannte keine Gesetze und Normen, doch in ihrem Innern herrschte eine klare Hierarchie, an deren unterem Ende die Filterlifixer standen. Sie kochten die von den anderen DrogenkonsumentInnen benutzten Zigarettenfilter auf und rezyklierten so die darin enthaltenen Heroinreste. Den Filterlifixern gegenüber verhielt sich die Polizei relativ zurückhaltend. Die WOZ notierte vor Ort: «Nur ein paar Filterlifixer bleiben gelassen beim Anblick der drei Zivilpolizisten, die über die Brücke schlendern. Sie sind ohnehin ausschliesslich Einheimische ... ‹Aha, du hast hier eine Wunde, dann will ich dich hier nicht durchsuchen.›»

In einer kalten Februarnacht wurden die letzten DrogenkonsumentInnen vom Letten weggewiesen. Die internationalen Kamerateams hatten ein Spektakel erwartet. Doch die Szene war schon längst gegangen. Das Ende der offenen Szene bedeutete natürlich nicht das Ende des Drogenhandels: «Auch die Dealer haben längst damit begonnen, sich auf die veränderten Marktbedingungen einzustellen: Langstrasse, Helvetiaplatz, Bahnhof Wiedikon, Goldbrunnenplatz; die Feinverteilung wird flächendeckend aufgezogen.» Und so ist es bis heute geblieben.

Bis zu unserem Jubiläum im Herbst werden wir an dieser Stelle eine kleine Auswahl der Highlights vorstellen, die in den letzten 24 Jahren in der jeweiligen Kalenderwoche in der WOZ erschienen sind. Diesmal: Kalenderwoche 3.

Den vollständigen Text zur offenen Drogenszene am Letten (WOZ Nr. 3/95) finden Sie hier www.woz.ch/artikel/archiv/12813.html