Der Fall Jeanmaire: Die Leiche im Keller der Militärjustiz

Nr. 12 –

Zwölf Jahre sass der ehemalige Brigadier Jean-Louis Jeanmaire wegen Landesverrats im Gefängnis. Rückblick auf einen Geheimprozess, dessen Wahnwitz die WOZ enthüllte.

Montag, 1. August 1988, am Kopiergerät in einem Schweizer Bahnhof. Der Kollege aus einer grossen Redaktion legt Seite um Seite auf die Glasplatte. Die fingerabdruckfreien Kopien behändigt der WOZ-Journalist. Es ist die Abschrift der geheimen Anklageschrift gegen den ehemaligen Brigadier Jean-Louis Jeanmaire. Dieser wird drei Tage später wieder ein freier Mann sein, nach Absitzen von zwei Dritteln der achtzehn Jahre Zuchthaus, die ihm die Militärjustiz 1977 in einem rechtsstaatswidrigen Geheimprozess aufgebrummt hatte.

In den Tagen vor Jeanmaires Freilassung überboten sich die Medien mit Spekulationen zum Fall. Hatten sie den Brigadier 1976/77 zum «Jahrhundertspion» gestempelt, so war nun vom «Jahrhundert-Justizskandal» die Rede. Die geheime Anklageschrift, die inzwischen bei verschiedenen Redaktionen lag, auch in den Häusern Ringier und Tages-Anzeiger, bewies, dass Jeanmaire mitnichten «Geheimstes» (Bundesrat Kurt Furgler) verraten hatte, sondern höchstens Zweit- und Drittrangiges. Manche Redaktionen hätten die Anklageschrift gerne publik gemacht. Doch das verboten ihnen die Hausjuristen; das Risiko sei zu gross.

Also kam, nicht zum ersten Mal, die WOZ zum Zug. Wir fanden, das Papier sei unbestreitbar von grossem öffentlichem Interesse und deshalb zu publizieren. Bei diesem Entscheid spielte auch die Erfahrung eine Rolle, dass die Militärjustiz stets willkürlich agierte. Drohte der Schaden durch eine juristische Verfolgung noch grösser zu werden, sah man davon ab.

In einer langen Nachtschicht übersetzte ein WOZ-Team den französischen Originaltext ins Deutsche. Am 4. August, demselben Donnerstag, an dem Jeanmaire Bellechasse verliess, war auf anderthalb WOZ-Seiten die vollständige Anklageschrift zu lesen (die WOZ war damals am Donnerstagnachmittag im Strassenverkauf und am Freitag in den Briefkästen). Zum Dokument schrieb ich einen Artikel und den Kommentar «Die Jeanmär». Zudem zeichnete ich (obschon der Redaktion nicht angehörend) als verantwortlicher Sitzredaktor.

Sicherheitshalber überliess ich mein Bett in der Nacht auf den Freitag einem WOZ-Anwalt, der unangemeldeten Morgenbesuch gleich hätte empfangen können. Wir waren also trotz allem auf alles gefasst. Es passierte gar nichts, die Militärjustiz ging auf Tauchstation. Die Medienjuristen hatten das Risiko masslos überschätzt - und wir ebenfalls ein bisschen.

Dass die WOZ die Rolle des enthüllenden Mediums spielte, war typisch für jene Jahre. Die «SonntagsZeitung» war erst ein gutes Jahr alt. Zweifellos würden sich heute mindestens zwei von drei Sonntagsblättern um ein Dokument wie die Jeanmaire-Anklageschrift reissen, ungeachtet der Klassifizierung «geheim».

Der CIA lässt Druck machen

Doch worum ging es im Fall Jeanmaire überhaupt? Heute gehört dieser bereits der Geschichte an. Im Historischen Lexikon der Schweiz (www.hls.ch) ist zu lesen: «1961 freundete sich J. mit dem sowjet. Militärattaché in Bern und offiziellen Vertreter des militär. Nachrichtendienstes GRU an und gab ihm wie auch später dessen Nachfolgern vertraul. Auskünfte über die Schweizer Armee weiter, bis Mitte der 1970er Jahre ein ausländ. Nachrichtendienst die schweiz. Behörden warnte. Im Aug. 1976 wurde J. verhaftet. Im Juni 1977 verurteilte ihn das Divisionsgericht 2 wegen Landesverrats zu 18 Jahren Haft. (...) 1988 kam er aus dem Gefängnis. In seiner Funktion hatte er keine ‹sensiblen› Informationen weiterleiten können. Das sehr strenge Urteil muss im Kontext der Zeit gesehen werden: Dazu zählen der Kalte Krieg, die Angst, dass die amerikan. Regierung zivile und militär. Hochtechnologie-Exporte der Schweiz unterbinden würde, und die öffentl. Meinung, die ein exemplar. Urteil erwartete. Die J.-Affäre ist Gegenstand des Theaterstücks ‹Jeanmaire: ein Stück Schweiz› von Urs Widmer und des Romans ‹Ein guter Soldat› von John Le Carré.»

«Der Schleier, der über dem grössten Schweizer Geheimprozess der siebziger Jahre lag, ist heute gelüftet», schrieb der Journalist Urs Rauber 1992 im Nachwort zu Urs Widmers brillantem Theaterstück. 1974 habe ein britischer Geheimdienstmann der schweizerischen Abwehr im Auftrag des CIA eröffnet, «in der Schweiz bestehe seit längerem ein Leck in Richtung Osten». Der CIA drohte damit, die Schweiz gleich zu behandeln wie den kommunistischen Feind, also keinen nachrichtendienstlichen Austausch mehr zu pflegen. «Der Fall J. hat für uns verschiedene Türen bei den Nato-Staaten geschlossen», bestätigte ein Korpskommandant später.

In Bern sahen sich drei Herren in die höchste Alarmstufe katapultiert: Divisionär Carl Weidenmann, Chef des militärischen Nachrichtendienstes, Bundesanwalt Rudolf Gerber und Justizminister Kurt Furgler. «Ich brauche auf der Stelle einen Spion, mir ist jeder recht», lässt Widmer den Bundesanwalt in seinem Stück verzweifelt ausrufen. Im «Interesse der Nation» musste, gehauen oder gestochen, einer gefunden werden.

Gesucht: Ein Opfer für den CIA

Im gerade pensionierten Brigadier Jeanmaire, einem «antikommunistischen Simpel und Wichtigtuer» (WOZ), fand man das Opfer, den man als Täter präsentieren könnte. Jeanmaire wurde ohne Beweise in der Hand verhaftet. Er gestand sofort alles. Nur war das dummerweise sehr wenig. Er hatte keinen Zugang zu Informationen über das Abwehrsystem Florida und die US-Panzertechnologie - die Punkte, deretwegen der CIA Alarm geschlagen hatte. Jeanmaire hatte lediglich ein Offiziersverzeichnis und Mobilmachungsunterlagen an den sowjetischen Militärattaché «Deni» weitergegeben - einen in Bern platzierten Mann vom sowjetischen militärischen Geheimdienst GRU, der auch öfter mit Jeanmaires Frau unter derselben Bettdecke steckte ... Was Jeanmaire weitergereicht hatte, war dem CIA wohl so breit wie lang.

Noch vor dem geheim geführten Prozess holte Justizminister Furgler im Nationalrat zu einer beispiellosen Vorverurteilung aus. Es handle sich um «einen der schwersten Verratsfälle seit 1848», der «Verräter» habe den Russen «geheimste Unterlagen» verraten, gefordert sei «die ganze Schwere des Gesetzes». Wie gewünscht, verurteilte die Militärjustiz Jeanmaire zu achtzehn Jahren Zuchthaus, nur zwei unter der Höchststrafe.

Der Prozess war ein Skandal. Er erinnert mehr an Schauprozesse in totalitären Staaten denn an einen Rechtsstaat. Zahlreiche verbindliche Standards wurden krass verletzt. Jeanmaire sass 33 Tage in Isolationshaft, bevor er einen Verteidiger zu Gesicht bekam. Der Ankläger und der militärische Grossrichter besprachen gemeinsam den Prozess vor. Der Kommissär der Bundespolizei, der Jeanmaire monatelang verhört hatte und nun als Zeuge geladen war, verfolgte den ganzen Prozess «im Auftrag von Bundesrat Furgler» gleichzeitig als Beobachter. Und so weiter. Doch der Zweck der Übung war erfüllt, das «Leck gen Rot» demonstrativ gestopft, die Schweiz wieder ein verlässlicher Kumpan der USA.

Jeanmaire wars nicht - wer dann?

Mit der Publikation der Anklageschrift durch die WOZ wurde auch einer breiten Öffentlichkeit klar (wenn auch erst elf Jahre nach dem Prozess): Das gesuchte grosse Leck nach Osten war Jeanmaire mit Bestimmtheit nicht. Nur (falls es das Leck tatsächlich gegeben hat): Wer war es denn? Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder war es tatsächlich ein Spion, ein nicht überführter Landesverräter. Oder, mindestens so wahrscheinlich, es war «unser» Nachrichtendienst, der das branchenübliche Geben und Nehmen von Information zu wenig im Griff hatte. «Das ist die Schizophrenie in diesem Business, das ohnehin mehr schadet als nützt», schrieb ich in einem späteren Kommentar in der WOZ: «Was für gewöhnliche BürgerInnen Spionage und Zuchthaus bedeutet, ist in der unkontrollierten Grauzone des ‹do ut des› tolerierte Usanz.»

«Diese Kontakte sind die normale Berufsausübung», sagt der Geheimdienstchef in Widmers Theaterstück. Der britische Geheimdienstoffizier und Romancier John Le Carré spricht in seiner Reportage «Ein guter Soldat» von «den schmutzigen Marktplätzen, wo so genannt befreundete Nachrichtendienste ihre Geschäfte abwickeln». Urs Rauber hat es in seinem Buch «Der Fall Jeanmaire» auf eine knappe Formel gebracht: «Landesverrat ist eben auch eine Frage der Bewilligung.»


John Le Carré: «Ein guter Soldat». Kiepenheuer & Witsch. Köln 1991. (Originalausgabe: «The Unbearable Peace».)

Urs Rauber: «Der Fall Jeanmaire. Memoiren eines ‹Landesverräters›». Weltwoche. Zürich 1991.

Urs Widmer: «Jeanmaire. Ein Stück Schweiz». Verlag der Autoren. Frankfurt am Main 1992.