Wenn frau nicht grad frisch oder halbfrisch verliebt ist, das Alter, in dem alles neu und spannend war, auch schon glücklich oder unglücklich hinter sich gebracht hat, muss sie gelegentlich anfangen, sich zu überlegen, aus welchen Gründen sie den leiblichen Genüssen eigentlich noch huldigt. Die Qualität der Gründe wie der Genüsse ist doch sehr unterschiedlich.
A. hörte auf, in ihrer Weinpfütze zu malen, S. vergass, sich das neunte Guetzli in den Mund zu stecken, N. prustete in ihre Tasse, ich zündete meine Zigarette verkehrt herum an. - Wir, ein paar Freundinnen, alle um Mitte dreissig, sassen bei T. am Küchentisch. Irritiert hatte uns T.s schlichte Frage: «Warum treiben wirs eigentlich?» Wir waren zeitgleich mit dem Dessert wieder einmal beim Thema Sex angelangt. S. schliesslich wischte sich N.s Kaffeespritzer aus dem Gesicht und sagte etwas verwirrt: «Na ja, aus Lust oder so …» Immer noch hustend unterbrach ich sie: «Bah. Es gibt tausend Gründe, es zu treiben. Lust ist nur selten einer.» «Stimmt», nickte N., «ich hab mit meinen Typen oft nur geschlafen, weil es mich mehr Energie gekostet hätte, es nicht zu tun. Sie wollen dann ja immer noch eine fundierte Begründung oder tun überhaupt beleidigt.» - «Und dann kommst du überhaupt nicht mehr zu deinem Schlaf. Ausserdem ist ja auch noch die Drohung im Raum, dass er sichs woanders holt», warf A. ein.
«Männer», sagte S. verächtlich. - «In einer Kiste tun wirs doch wirklich oft nur, weil wir meinen, dass es eben dazugehört, oder glauben, man habe einander zwecks Triebabfuhr zur Verfügung zu stehen. Jedenfalls, bis irgendwann die berühmte tote Hose gänzlich siegt. Das ist mit Frauen auch nicht anders», verteidigte ich die andern beiden und schnappte S. das letzte Guetzli weg. «Tote Hose», sagte A. nachdenklich, «in meiner zweiten Langzeitkiste wollte ich die unbedingt verhindern. Und hab dann beschlossen, dass im Minimum alle zwei Wochen gevögelt wird, ob ich nun will oder nicht. Und das hab ich auch durchgezogen.» - «Bei mir war das Interesse am Sex immer dann ganz gross, wenn mich einer verlassen hat. Dann wollte ich ihn unbedingt wieder ins Bett zerren. Seis, dass ich hoffte, ihn damit zurückzugewinnen, seis, um der Neuen eins auszuwischen», sagte N., während sie an der Grappaflasche herummurkste.
«Und das erste Mal mit jemandem? Seid ihr da immer geil?» schaltete sich T. wieder ein. - «Ach nein, natürlich nicht. Das stellt sich noch ein, wenn du Glück hast oder mit ein paar Fantasien nachhilfst. Ich fühl mich halt manchmal einsam oder brauche schlicht ein paar Streicheleinheiten», sagte S. «Ja, und dann stellst du fest, dass es keine grössere Einsamkeit gibt als die neben einer, die dich ausserhalb vom Bett eigentlich nicht interessiert», gab ich zu bedenken. N. nickte: «Und wie sind denn Streicheleinheiten von einer solchen Person?» - «Unangenehm. Stimmt schon. Andererseits hab ich mich sogar mal einer an den Hals geschmissen, weil ich plötzlich merkte, wie sie mich ausserhalb des Betts frustriert und wir diesen Abend irgendwie noch zu Ende bringen mussten. Hat aber auch nicht viel gebracht.» S. schaute sich suchend um. T. stand auf und holte eine neue Packung Guetzli: «Eben. Also hältst du dich an das, was tatsächlich rauszuholen ist. Ich habs zum Beispiel schon oft als Ablenkungsmanöver gemacht oder um mein Selbstwertgefühl zu heben, wenn ich Liebeskummer hatte.» - «Oder als Strafe für einen Seitensprung. Das dauerte bei mir früher keine zwei Tage, und schon lag ich auch in einem fremden Bett», ergänzte ich. N. hob die Hand: «Und kennt ihr die Doppelgängerlösung für Abgewiesene? Wenn ihr den nicht kriegt, den ihr haben wollt, dann halt einen nehmen, der ihm ähnlich ist - oder seinen besten Freund? Manchmal funktionierts.» A. schüttelte zweifelnd den Kopf und begann: «Ich wollte manchmal einfach eine, die ich nicht mochte, ausstechen oder …» - «Oder überhaupt eine Eroberung vorweisen können. Als sexuell aktiver Mensch kannst du schliesslich von dir behaupten, zumindest von einer Person begehrt zu werden», fiel ich ihr ins Wort, «und dann hatte ich auch meine Skalpsammelphase, so zwischen achtzehn und fünfundzwanzig etwa.» -
«Genau», rief A. begeistert und patschte in ihre Weinpfütze, «da bist du mit jedem oder meinetwegen jeder ins Bett gegangen, wenns nicht grad ein Zombie war. Aber nebst der Zahlenschinderei gings natürlich auch darum, sich mit Opinionleaders oder schillernden Figuren zu schmücken.» Wir nickten alle beifällig. «Ausserdem willst du herausfinden, wie andere Menschen bzw. Körper funktionieren. Jugend forscht. Ich hätte jeweils grad so gut einen Wecker auseinandernehmen können. Das wär auch sehr befriedigend gewesen», grinste T. und schichtete ihren Haufen zerkrümelter Zahnstocher neu um. «Mir geht das heute noch ein bisschen so. Ich machs manchmal aus lauter Angst, etwas zu verpassen. Ausserdem: bumse in der Zeit, dann hast du in der Not», sagte N. «Richtig. Militante Singles, wie wir sie mittlerweile alle sind, haben ja nicht immer grad jemanden zur Hand, wenn der Trieb sich meldet. Vorholen ist immer gut. Vergiss die blöde Lust!» meinte ich und goss mir einen Schnaps ein. Die Hälfte ging daneben. «Sowieso. Und wenn die Natur ihr Recht will, ist ein gepflegtes Onanieren im Übrigen alleweil zuverlässiger», doppelte N. nach.
S. zerkaute zwei Guetzli aufs Mal. Dann sagte sie feierlich: «Es gibt auch ganz praktische Gründe fürs Bumsen. Mir hilfts zum Beispiel bei Menstruationsbeschwerden.» A. nickte: «Oder bei Kälte. Aufwärmgymnastik wirkt viel schneller, wenn du sie zu zweit betreibst.» - «Und die Fitness, vergiss die Fitness nicht! Ausserdem sei es gut fürs Herz, überhaupt für die Durchblutung», darüber hatte ich erst kürzlich einen Artikel gelesen. N. goss ihre Tasse halbvoll mit Schnaps, tat anstandshalber noch ein wenig Kaffee dazu und sagte: «Ich habs mal für Geld gemacht. Als ich so gegen zwanzig war, quatschten mich ständig mittelalterliche Herren an, und als einer dann mal bis auf 800 Stutz raufging - das begann bei der Bushaltestelle mit 200 und ging bis vor meine Haustür -, da hab ich den mit reingenommen. Eigentlich wars vor allem Neugier, ob er dieses Geld tatsächlich rausrückt. 500 warens dann übrigens. - «Oder wenn du einen Schlafplatz brauchst. Früher, wenn ich den letzten Zug in die Provinz verpasste … Bei Männern war das dann halt oft der Preis beziehungsweise eben auch der kleinere Aufwand, da schnell mitzuspielen, als mit den beleidigten Leberwürsten zu debattieren; oder es ist einfach noch dazu gekommen, weil die Gelegenheit da war, eigentlich mehr aus Versehen», fügte ich hinzu und zündete meine dreissigste Zigarette an.
T. wedelte sich den Rauch aus dem Gesicht, stiess dabei ihr Schnapsglas um und fragte: «Und was bringts sonst noch?» - «Pilze, immer wieder Pilze», jubelte N. «Versaute Bettwäsche, Abtreibungen, Muskelkater», fiel A. in ihren Gesang ein. «Na, heute müsst ihr den Typen eh Pariser aufschwatzen, das löst ja ein paar dieser Probleme», dozierte ich und stoppte mit meinem Guetzli einen Ausläufer von T.s Schnaps, «aber dieses Erschrecken beim Aufwachen, die Lämpen, wer liebt wen und warum nicht!» T. spuckte den letzten Zahnstocher durch die Gegend: «Aus Versehen, als Strafe, gegen Menstruationsbeschwerden. Dann Tierlein und Telefonterror. Die Skalps sind gesammelt, Ladies, das Problem ist umzingelt: Freude herrscht.»
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