Am 11. September 1987 verübte die WOZ einen sanften Anschlag - und traf offenbar mitten in die Weichteile. So zahlreich und kontrovers waren die Reaktionen auf jene Nummer, dass man von einer der heissesten Debatten in der WOZ-Geschichte sprechen darf.
«Liebe Leserinnen (Männer sind natürlich mitgemeint)», hiess es da in der Hausmitteilung, «es wird ernst. In dieser Woche probiert die WoZ - nicht den Aufstand, aber die ‹Totale Feminisierung› der Sprache (...). Bisher hatte die WOZ nur das ‹schwerfällige› Splitting (Typ Leserinnen und Leser) oder das steil aufragende I mitten im Wort - eine Schweizer Erfindung, die auch in der BRD immer mehr Anklang findet: LeserInnen (...). Mindestens einmal soll das männliche Geschlecht ausführlich Gelegenheit zum Einfühlungstraining haben. Damit es kapiert, was es bedeutet, nie zu wissen, ob mann überhaupt gemeint ist, was es bedeutet, dem anderen Geschlecht zugezählt zu werden - diesen ständigen Identitätsverlust hinzunehmen (...)»
Und so fand er also statt, dieser kleine Anschlag auf die Männlichkeit - tatkräftig unterstützt und redigiert von den beiden Sprachwissenschaftlerinnen Luise F. Pusch und Thérèse Flückiger: Von wenigen, aber bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen, erschienen alle Texte «feminisiert». Dummerweise war gerade auf Seite 1 ein Artikel über «Bürgerwehren» und «Bewaffnete Zivilschützer» platziert, dessen Autor gegen eine Feminisierung seines Textes war - mit dem Argument, hier handle es sich um eine rein männliche Domäne, eine Feminisierung sei darum Unsinn und ziehe die Sache ins Lächerliche.
Der erste Eindruck, wenn frau diese WOZ heute durchliest: alles halb so wild. Ist man auf die Totalfeminisierung vorbereitet und als langjährige WOZ-Leserin auch ans (phallische?) «steil aufragende I mitten im Wort» gewohnt, dann liest man die Zeitung durch, ohne gross über die fehlende respektive mitgemeinte Männlichkeit zu stolpern. Damals kam das offenbar etwas anders an: «Wenn Ihr die feminisierte Sprachregelung nicht beibehaltet, bestelle ich Euer Blatt ab», drohte eine Leserin freundlich. «Ungewohnt ist es schon, aber schön!», fand eine andere. «Dunnerwätter, jetzt habt Ihr aber einmal richtig zugeschlagen. Das haut sogar Ottilie Normalverbraucherin vom Stuhl», befand W. Fischerova aus Buttvilla lobend. Andere nahmen es mit weniger Humor: «Wenn Ihr weiter solchen Mist baut, bestelle ich ab.» Und ganz ernsthaft ein bekehrter Leser: «Eure feminisierte WoZ hat mein Sprach- und Gesellschaftsempfinden epochal verändert.»
Auch unter den WOZ-RedaktorInnen waren die Meinungen geteilt: Im Gespräch mit Luise F. Pusch (WOZ Nr. 38/87) wurde vor allem über die Kommentare der beiden Sprachwissenschaftlerinnen zu den Artikeln gemäkelt, die gelegentlich Schlagseite hatten oder ins Zeigfingerhafte kippten: Aus Wolf Biermann Ziege Milchfrau zu machen, fand eine Redaktorin eher dämlich - und wir heute auch. Am meisten zu reden gab das Interview mit dem südafrikanischen Musiker Lois Moholo, das aus dem Englischen - bekanntlich eine weitgehend geschlechterneutrale Sprache - übersetzt und nicht «feminisiert» wurde. So ist denn dort - abgesehen von der Pianistin Irène Schweizer, mit der Moholo oft auftrat - nur von «Musikern» und andern Männern die Rede, was die Sprachwissenschaftlerin Thérèse Flückiger zu einem bissigen Kommentar verführte. Man könne doch nicht ausgerechnet dem einzigen Schwarzen in dieser Nummer am meisten Sexismen vorwerfen, entgegnete eine WOZ-Redaktorin. «Schwarze Männer sind für mich von der feministischen Kritik nicht ausgenommen, da bin ich ganz unrassistisch», erwiderte Pusch cool und insistierte, dass es genau auf dieser Linie weiterzudenken gelte: «Worauf hier in Europa vor allem geachtet wird, ist die Klassenfrage und die Rassenfrage, nicht aber die Geschlechterfrage. Dabei müssten alle drei gleichermassen berücksichtigt werden: Rassismus, Sexismus und Klassismus.»
Die WOZ hat weiter gedacht in diese Richtungen und immer wieder die einzelnen Differenzkategorien Rasse, Klasse und Geschlecht und ihre Überschneidungen thematisiert und problematisiert - und sie ist auch (mehr oder weniger konsequent) beim Binnen-I geblieben. Ziemlich unvermutet kam es im Jahr 2003 wieder zu einer «Gender-Debatte» (siehe www.woz.ch/dossier/gender.html) - unvermutet darum, weil das Thema sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr zu einer akademischen Disziplin entwickelt hat und ausserhalb der Hochschulen kaum mehr diskutiert wird. Die Debatte, die bezeichnenderweise auf den Kulturseiten und nicht im Politikteil der Zeitung stattfand, wies keine Spur mehr von einer direkten Intervention in die Alltagspraxis auf, wie sie die «totale Feminisierung» von 1987 anpeilte, sondern war eine unter Theoretikerinnen ausgetragene Kontroverse um Zielsetzungen, Instrumentarien und Gewichtungen innerhalb der Geschlechterforschung, heute Gender-Studies genannt.
Der unter dem Titel «Das Spiel der Geschlechter - eine Sackgasse?» publizierte «Aufruf zur theoretischen Reflexion» von Tove Soiland (WOZ Nr. 21/03) stach mitten ins Wespennest des akademischen Gender-Zirkels, denn er warf diesem indirekt vor, den Kontakt zur Lebenspraxis verloren zu haben. Wie realitätstauglich sind die Erkenntnisse der aktuellen Gender-Studies? Und wie politisch ihre Theoriemodelle? «Es scheint, als gehe heute ein beharrliches Fortbestehen geschlechtlicher Hierarchisierung problemlos Hand in Hand mit einer eindrücklichen Aufweichung geschlechtsspezifischer Verhaltensweisen: Auch wenn wir uns den silbernen Penis als Piercing an den Nabel stecken, an den wichtigsten Parametern der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern wie Lohndifferenz, Verteilung der Arbeit oder Zugang zu Ressourcen ändert sich wenig bis gar nichts. Nach wie vor verdienen Frauen weniger als dreissig Prozent der Lohnsumme; obwohl sie insgesamt mehr als die Hälfte der Arbeit verrichten, ist ihre Medienpräsenz sogar rückläufig und nimmt die Gewalt gegen sie zu», schrieb Soiland. Was bedeutet überhaupt, Geschlecht sei ein «soziales Konstrukt», fragte sie weiter, um ihre Dekonstruktion der Dekonstruktion in die These münden zu lassen, dass die Gender-Forschung mit ihrer Kritik an normativen Geschlechterrepräsentationen - an Weiblichkeitsbildern, Rollenklischees, Verhaltensvorgaben - der neoliberalen Flexibilisierung aller Lebensbereiche zuarbeite.
Verhalten plädiert Soiland zum Schluss für eine Rückkehr zu einem (theoretisch gepolsterten) Feminismus als politische Praxis, der die Alltagswirklichkeit und die darin wirksamen ökonomischen Verhältnisse, sprich Ungleichheiten, im Auge hat und sich nicht mit theoretischen Analysen begnügt. Diese Botschaft ist allerdings - sichtbar - nur bei Gender-Theoretikerinnen angekommen, die sich angegriffen fühlten und ihr mehr oder weniger scharf entgegneten. WOZ-LeserInnen haben kaum auf diese Debatte reagiert. Vielleicht, weil sowohl der Aufruf als auch die nachfolgenden Repliken einfach zu akademisch daherkamen, für viele die politische Brisanz der Texte unter der hoch spezialisierten Sprache verschleiert blieb? Eine praktikable Gender-Politik, die Theorie und Praxis (wieder) miteinander vermittelt, steht immer noch aus.
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