Eine Analyse von Subcomandante Marcos: Der Südosten in zwei Winden, einem Sturm, einer Prophezeiung

Ende Januar erhielt die linksoppositionelle Tageszeitung «La Jornada» Post aus dem lakandonischen Regenwald. Absender war die zapatistische Befreiungsarmee EZLN, «Abteilung Presse und Propaganda». Im Umschlag lag ein langer Text, verfasst vom Sc. I. (Subcomandante Insurgente) Marcos bereits Mitte 1992. Der Autor zeichnet darin im Wechsel genauer Beschreibungen, poetischer Bilder, nüchterner Zahlen und scharfer Analysen ein einprägsames Bild der Zustände im südöstlichen mexikanischen Bundesstaat Chiapas.

Erster Wind, der von oben,

der erzählt, wie die indianische Misere in Chiapas die hohe Regierung rührte und diese so freundlich war, die Gegend mit Hotels, Gefängnissen und Kasernen auszustatten; auch wird erzählt, wie die Bestie sich vom Blut dieses Volkes ernährt, sowie andere höchst unglückselige und bedauerliche Ereignisse.

Angenommen, Sie wohnen im Norden, im Zentrum oder im Westen des Landes. Angenommen, Sie nehmen sich das alte Motto «Lernen Sie zuerst Mexiko kennen!» der mexikanischen Tourismusbehörde Sectur zu Herzen. Angenommen, Sie entschliessen sich, den Südosten des Landes zu bereisen, und angenommen, Sie wählen den Bundesstaat Chiapas. Gehen wir also davon aus, Sie reisen auf der Landstrasse, zum Beispiel auf der transisthmischen Autobahn. Sie beachten jene Kaserne des Artillerie-Regiments der Bundesarmee auf der Höhe von Matías Romero nicht und fahren weiter Richtung La Ventosa, nehmen auch das Kontrollhäuschen nicht wahr, das die Einwanderungsbehörde des Innenministeriums an dieser Stelle unterhält und das einen glauben lässt, ein Land zu verlassen und ein anderes zu betreten, biegen links ab und fahren entschlossen Richtung Chiapas. Ein paar Kilometer weiter stossen Sie auf ein grosses Schild: «Willkommen in Chiapas». Gefunden? Gut. Sie befinden sich auf einer der drei Landstrassen, die in den Bundesstaat führen. Eine Strasse im Norden, eine entlang der Pazifikküste und diejenige, auf der wir annehmen, Sie seien gekommen, verbinden den Rest des Landes mit dieser südöstlichen Ecke.

Der Reichtum verlässt diese Region aber nicht nur auf diesen drei Landstrassen. Chiapas verblutet auf tausend Wegen: Öl- und Gaspipelines, Stromleitungen, Eisenbahnwagen, Bankkonten, Last- und Lieferwagen, Schiffe und Flugzeuge, klandestine Pfade, terrassierte Strassen, Breschen und Schneisen. Dieses Land zahlt weiterhin den Imperien seinen Tribut: Öl, elektrische Energie, Vieh, Geld, Kaffee, Bananen, Honig, Mais, Kakao, Tabak, Zucker, Soja, Sorghum, Melonen, Mamey, Mango, Tamarinde und Avocados und chiapanekisches Blut fliessen durch die tausendundein in die Gurgel des mexikanischen Südostens geschlagenen Reisszähne der Plünderung. Milliarden Tonnen an Rohstoffen strömen den mexikanischen Häfen, den Eisenbahn-, Flug- und Lastwagenterminals zu. Bestimmungsorte sind die USA, Kanada, Holland, Deutschland, Italien, Japan. Eine Handvoll Kaufleute, unter ihnen der mexikanische Staat, holen sich aus Chiapas den ganzen Reichtum und hinterlassen eine tödliche, stinkende Spur.

In den chiapanekischen Böden stecken 86 Fördertürme der Pemex1, die jeden Tag 92000 Barrel Öl und 19 Milliarden Kubikmeter Gas aus der Erde saugen; im Austausch hinterlassen sie den kapitalistischen Stempel: ökologische Zerstörung, Landvertreibung, Hyperinflation, Alkoholismus, Prostitution und Armut. Doch die Bestie ist nicht zufrieden und streckt ihre Tentakel weiter in Richtung Selva Lacandona aus: Pemex-Teams forschen an acht weiteren Orten nach Ölvorkommen. Macheten öffnen für sie die Schneisen, geschwungen von denselben Bauern, denen die unersättliche Bestie ihr Land genommen hat. Die Bäume fallen, und Sprengstoffexplosionen widerhallen in Gegenden, in denen es nur den Bauern verboten ist, Bäume zu fällen, um zu säen. Mit jedem Baum, den sie schlagen, riskieren sie eine Strafe von zehn Mindestlöhnen und Gefängnis. Der Arme darf keine Bäume fällen, die Öl-Bestie schon. Der Bauer rodet, um zu leben, die Bestie, um zu plündern.

Was gibt die Bestie im Tausch für das, was sie nimmt?

55 Prozent der in Mexiko verbrauchten hydroelektrischen Energie stammen aus diesem Bundesstaat, hier werden 20 Prozent der gesamten Elektrizität produziert, während nur ein Drittel der chiapanekischen Haushalte über elektrisches Licht verfügen.

Die Hälfte der Chiapaneken kennen kein fliessendes Trinkwasser, zwei Drittel keine Abwassersysteme. 90 Prozent der Landbevölkerung haben minimale oder gar keine Einkommen. Die Verkehrsverbindungen sind eine groteske Karikatur. Nur zwei Drittel der Hauptorte sind auf asphaltierten Strassen erreichbar, 12000 Dörfer kennen keine andere Verbindung als die jahrhundertealten Saumpfade. Die Eisenbahnlinie folgt, seit den Zeiten des Porfirismus, nicht den Bedürfnissen der chiapanekischen Bevölkerung, sondern denjenigen der kapitalistischen Plünderung. Der einzige chiapanekische Hafen, Puerto Madero, ist nur ein Ausgang mehr, durch den die Bestie das Geraubte wegschafft.

Schulbildung? Die schlechteste Mexikos. Von 100 Kindern beenden 72 das erste Jahr der Primarschule nicht. Über die Hälfte der Schulen unterrichten nur bis zur dritten Klasse und verfügen über einen einzigen Lehrer für alle Schüler. In jeder indianischen Gemeinde gehört es zum Alltag, während der Schulstunden Kindern zu begegnen, die Holz oder Mais schleppen, kochen oder Kleider waschen. Von den 1989 bestehenden 16058 Schulhäusern befanden sich nur 1096 in indianischen Gebieten.

Die kapitalistische Spur zeigt sich deutlich an der Gesundheit der Chiapaneken: 1,5 Millionen Menschen haben keinerlei Zugang zu medizinischen Diensten. Auf 1000 Einwohner kommen 0,2 Ambulatorien, fünfmal weniger als im nationalen Durchschnitt, 0,3 Spitalbetten, dreimal weniger als im Rest von Mexiko, 0,5 Ärzte und 0,4 Krankenschwestern, zweimal weniger als landesweit üblich.

In der Armut gehen Gesundheit und Ernährung bekanntlich Hand in Hand. 54 Prozent der chiapanekischen Bevölkerung sind unterernährt, im Hochland und in der Selva sind es vier Fünftel der Menschen. Die Durchschnittsmahlzeit eines Bauern besteht aus Kaffee, Pozol [ein Maisgetränk], Tortilla und schwarzen Bohnen. All dies hinterlässt der Kapitalismus als Bezahlung für das, was er nimmt.

WILLKOMMEN! SIE HABEN DEN ÄRMSTEN BUNDESSTAAT DES LANDES ERREICHT: CHIAPAS.

Nehmen wir also an, Sie fahren weiter, von Ocozocautla runter nach Tuxtla Gutiérrez, der Hauptstadt des Bundesstaates. Halten Sie sich nicht zu lange auf, Tuxtla ist nichts als eine riesige Lagerhalle, in der die regionale Produktion angehäuft wird. Hierhin gelangt ein Teil des Reichtums und wird später dorthin verschickt, wo es den kapitalistischen Interessen beliebt. Halten Sie sich nicht auf, hier berühren Sie kaum die Lippen des blutigen Raubtiermauls. Fahren Sie weiter nach Chiapa de Corzo, ohne der Nestlé-Fabrik allzu grosse Beachtung zu schenken, und hinauf in die Berge. Was sehen Sie da? Ja, Sie betreten eine andere, die indigene Welt. Eine andere Welt, aber die gleiche, in der auch im Rest des Landes Millionen leben.

In Chiapas wird diese indigene Welt von 300000 Tzeltales, 300000 Tzotziles, 120000 Choles, 90000 Zoques und 70000 Tojolabales bevölkert. Die hohe Regierung anerkennt, dass «nur» die Hälfte dieser Million indigener Menschen Analphabeten sind.

Fahren Sie auf der Landstrasse weiter ins Gebirge und hinauf ins sogenannte Hochland von Chiapas. Hier waren die Indígenas vor 500 Jahren in der Mehrheit, Hüter und Herr von Land und Wasser. In der Mehrheit sind sie jetzt nur noch zahlenmässig und bezüglich der Armut. Weiter, und Sie erreichen San Cristóbal de Las Casas, bis vor 100 Jahren Hauptstadt des Staates. Kämpfe innerhalb des Bürgertums erlösten sie vom zweifelhaften Ruhm, Hauptstadt des ärmsten mexikanischen Bundesstaates zu sein. Nein, halten Sie sich nicht auf, denn wenn Tuxtla eine grosse Lagerhalle war, so ist San Cristóbal ein grosser Markt: Auf tausend Pfaden gelangt der indigene Tribut zum Kapitalismus, Tzotziles, Tzeltales, Choles, Tojolabales und Zoques, alle bringen sie etwas: Holz, Kaffee, Vieh, Stoff, Kunsthandwerk, Früchte, Gemüse, Mais … Und alle nehmen sie etwas mit: Krankheiten, Ignoranz, Spott und Tod. Im ärmsten Bundesstaat Mexikos ist dies die ärmste Region. Willkommen in San Cristóbal, «Kolonialstadt», wie die Coletos sagen, doch die Mehrheit der Bevölkerung ist indigen. Willkommen auf dem grossen Markt, den Pronasol verschönert. Hier kauft und verkauft sich alles, ausser der indigenen Würde. Hier ist alles teuer, ausser der Tod. Aber verschwenden Sie Ihre Zeit nicht, fahren Sie auf der Überlandstrasse weiter, bewundern Sie die touristische Infrastruktur. 1988 verfügte der Bundesstaat über 6270 Hotelzimmer, 139 Restaurants, 42 Reisebüros; in diesem Jahr kamen 1058098 Touristen und liessen 250000 Millionen Pesos in den Händen der Hoteliers und Wirte zurück.

Haben Sie nachgerechnet? Richtig: Auf 1000 Touristen kommen 7 Hotelzimmer, auf dieselbe Anzahl Chiapaneken 0,3 Spitalbetten. Aber lassen wir die Rechnerei. Fahren Sie weiter, und überholen Sie vorsichtig diese drei Kolonnen Polizisten, die mit ihren gescheckten Mützen am Rand der Strasse entlangtrotten, lassen Sie die Kaserne der Sicherheitstruppen hinter sich, immer weiter zwischen Hotels, Restaurants und grossen Geschäften, und nun biegen Sie ab Richtung Comitán. Sehen Sie dieses Schild? Nein, Sie irren sich nicht, diesen Naturpark verwaltet wirklich die Armee! Akzeptieren Sie mal die leichte Verwirrung und fahren Sie weiter. Sehen Sie? Moderne Gebäude, gute Häuser, asphaltierte Strassen … Eine Universität? Eine Arbeiterkolonie? Nein, beachten Sie das Schild am Rande des Tals gut und lesen Sie: Kaserne der 31. Militärzone. Noch immer das schmerzende Olivgrün auf der Netzhaut, gelangen Sie zu einer Kreuzung und entscheiden, nicht nach Comitán zu fahren. So bleibt Ihnen jener Hügel, den man «Der Fremde» nennt, erspart: Dort betreibt US-amerikanisches Militärpersonal einen Radar und unterrichtet seine mexikanischen Kumpane.

Besser, wir wenden uns nach Ocosingo. Die Ökologie und dieser ganze Quark ist ja mittlerweile schwer in Mode. Schauen Sie mal diese tollen Bäume, atmen Sie tief durch. Fühlen Sie sich nun besser? Dann richten Sie Ihren Blick nach links, sonst sticht Ihnen beim Kilometer sieben eine wunderbare Konstruktion mit dem noblen Symbol der Solidarität ins Auge. Gucken Sie nicht hin, ich sage Ihnen, drehen Sie sich auf die andere Seite, Sie sollen nicht sehen, dass dieses schöne neue Gebäude ein Gefängnis ist. Böse Zungen behaupten, dies sei die grosse Leistung von Pronasol: die Bauern müssen nun nicht mehr bis in den Cerro Hueco reisen, das Gefängnis in der Hauptstadt Tuxtla. Nein, Mensch, lassen Sie sich nicht entmutigen, das Schlimmste ist immer versteckt, das Ausmass der Armut erschreckt die Touristen … Fahren Sie weiter, runter nach Huistán und rauf nach Oxchuc, biegen Sie nicht nach Altamirano ab, fahren Sie weiter bis Ocosingo, das «Tor zur Selva Lacandona».

Gut, gut, machen wir eben einen schnellen Rundgang durch die Stadt. Wichtigste Sehenswürdigkeiten? Nun, diese beiden grossen Gebäude am Eingang sind Bordelle, jenes ein Gefängnis, das dort drüben eine Kirche, das andere die Handelsstelle der Viehzüchter und dort eine Kaserne der Bundesarmee, hier die Polizei, das Stadthaus, weiter drüben Pemex, alles übrige sind dichtgedrängte Hütten, die bei der Durchfahrt der gigantischen Pemex-Lastwagen und der Transporter der Grossgrundbesitzer erzittern. Was halten Sie davon? Eine Hacienda aus den Zeiten von Porfirio Díaz? Ach was, das ist doch schon seit 75 Jahren vorbei!

Nein, fahren Sie besser nicht bis dahin, wo die Flüsse Jataté und Perlas zusammenfliessen, gehen Sie nicht da hinunter und laufen Sie nicht dreimal acht Stunden bis hinunter nach San Martín. Sie sollen doch nicht sehen, was für ein kleines und armseliges Ejido das ist. Nähern Sie sich nicht diesem traumhaften Haus da, das fast auseinanderfällt und mit löchrigem, rostigem Wellblech bedeckt ist. Was ist das? Nun, manchmal Kirche, manchmal Schule, dann Versammlungsraum. Gerade jetzt, elf Uhr morgens, ist es ein Schulhaus. Nein, gehen Sie nicht hinein, schauen Sie nicht rein, kein Blick auf diese vier von Würmern und Läusen strotzenden, halbnackten Gruppen von Kindern, die vier jungen Indígenas, die gegen ein miserables Entgelt - das sie sich nach drei Tagesmärschen abholen können - hier Lehrer spielen. Und lassen Sie diese Broschüren, wo sie sind, sie sind das einzige, was die Kinder hier von der Regierung erhalten haben: Materialien zur Aids-Prävention …

Klar sagen böse Zungen, in diesen Bergen gebe es Guerilleros und die monetäre Regierungshilfe diene nur dazu, die Loyalität der Indigenen zu erkaufen, doch das sind Gerüchte, sicher wollen sie Pronasol in Verruf bringen. Was es mit dem Komitee zur Bürgerverteidigung auf sich hat? Nun ja, das ist eine Gruppe «heldenhafter» Viehzüchter, Händler und Gewerkschaftsschläger, welche die «weissen Wachen» organisieren, um Bauern zu bedrohen und zu vertreiben. Nein, nein, ich sagte Ihnen doch bereits, dass die porfiristische Hacienda vor 75 Jahren abgeschafft wurde.

Palenque. Ein schneller Blick auf die Stadt? Also, hier sind die Hotels, dort Restaurants, hier das Stadthaus, drüben die Polizei, die Kaserne der Bundesarmee und … was? Nein, nein, ich weiss schon, was Sie sagen wollen, nein, sagen Sie’s nicht. Immer so? Nein, manchmal trifft man auf Protestmärsche der Bauern. Müde? Wollen Sie zurück? Also gut. Andere Orte? Ganz andere? In welchem Land? Mexiko? Sie werden das gleiche sehen, die Farben ändern sich, die Sprachen, die Landschaften, die Namen, aber der Mensch, die Ausbeutung, die Misere und der Tod sind dieselben. Suchen Sie nur gut. In welchem Bundesstaat der Republik auch immer. Passen Sie auf sich auf. Und wenn Sie mal einen Reiseführer brauchen, lassen Sie es mich wissen. Ach, und noch was. Es wird nicht immer so sein. Ein anderes Mexiko? Nein, dasselbe. Ich rede von etwas anderem. Als ob hier und da andere Lüfte zu blasen beginnen, als ob ein anderer Wind sich erhebt.

Zweites Kapitel, worin von den Taten des Vizeköniglehrlings

erzählt wird, von seinem heroischen Kampf gegen den progressiven Klerus und von seinen Abenteuern mit den feudalen Vieh-Herren und von anderen phantastischen Dingen.

Es war einmal ein Vizekönig, besser gesagt ein Vizeköniglehrling. Dieser Gouverneur, Patrocinio González Garrido, machte sich daran, ganz nach der Art der alten Monarchen, die von der spanischen Krone mit der Conquista eingesetzt worden waren, die chiapanekische Geographie zu reorganisieren. Die Zuordnung urbaner und ruraler Räume erfordert eine ausgeklügelte Handhabung der Macht, doch unter der Ungeschicklichkeit des Herrn González Garrido hat sie köstliche Ebenen der Dummheit erreicht. Der Vizekönig hat also entschieden, dass die Städte mit ihren Dienstleistungen und Vorteilen für diejenigen da seien, die bereits alles haben, und dass die Mehrheit draussen zu bleiben habe, im Freien, und ihr höchstens ein Platz im Gefängnis gebühre, was aber immer noch lästig genug ist. Deshalb entschied der Vizekönig, die Gefängnisse gehörten an den Rand der Städte, damit die Nähe dieser unerwünschten und delinquenten Meute die Ruhe der Herren nicht störe. Gefängnisse und Kasernen sind die wichtigsten Werke, die dieser Gouverneur in Chiapas vorangetrieben hat. Seine Freundschaft mit Grossgrundbesitzern und mächtigen Händlern ist ebensowenig ein Geheimnis wie seine Abneigung gegen die drei Diözesen, die das katholische Leben des Bundesstaates regeln. Die Diözese von San Cristóbal, mit Bischof Samuel Ruiz an der Spitze, bedeutet eine ständige Störung des Neuordnungsprojekts von González Garrido. Willens, die absurde Struktur zur Ausbeutung und Plünderung von Chiapas zu modernisieren, stösst Patrocinio González immer wieder auf die Sturheit der Religiösen und Kirchlichen, die den Katholizismus für die Armen predigen und leben.

Noch bevor es sich Patrocinio González Garrido auch nur träumen liess, diesen Bundesstaat zu regieren, predigte die Diözese von San Cristóbal das Recht auf Freiheit und Gerechtigkeit. Für die rückständigsten Teile des Bürgertums, vor allem die Agro-Bourgeoisie, können solche Worte nur eines bedeuten: Rebellion. Und die «patriotischen» und «frommen» Grossgrundbesitzer und Händler wissen, wie Rebellionen zu verhindern sind: Die Existenz bewaffneter «weisser Wachen», von ihnen bezahlt und von Bundesarmee und Sicherheitspolizei ausgebildet, ist den Bauern nur allzu bekannt; sie sind es, die Drohungen, Folter und Kugeln zu erdulden haben.

Drittes Kapitel, worin erzählt wird, wie das Imperium

den Tod des Sozialismus beschloss und wie die Rede davon aufkam, dass gesagt werde, Zapata sei nicht tot.

Nichts mehr mit Kampf. Der Sozialismus ist tot. Es lebe die Reform, die Moderne, der Kapitalismus und seine grausamen Etceteras. Der Vizekönig und seine feudalen Herren tanzen und lachen übermütig in ihren Palästen und Gutshäusern. Ihre Freude beunruhigt einige der wenigen unabhängigen Denker, die in diesen Landen leben. Sie wissen nicht, was passiert, geben sich dem Verdruss hin und dem Selbstmitleid: Es stimmt schon, wozu noch kämpfen? Das Kräfteverhältnis ist ungünstig. Es ist nicht der Augenblick, man muss abwarten. Vorsicht mit den Abenteurern! Besonnenheit. Der Sozialismus ist tot. Es lebe das Kapital. Radio, Presse und Fernsehen proklamieren es, Ex-Sozialisten wiederholen, besonnen geworden und reuig, den Todesspruch.

Aber nicht alle lassen sich vom Strudel der Entmutigung mitreissen. Die meisten, Millionen, hören nicht die Stimmen der Mächtigen und nicht die Stimmen der Wankelmütigen. Sie können nicht hören, denn sie sind taub vom Schreien und Weinen über Tod und Elend. Gibt es aber Momente der Ruhe - und es gibt sie noch -, hören sie eine andere Stimme, diejenige, die der Wind von unten heranträgt und die dem indigenen Herzen der Berge entspringt. Sie spricht von Gerechtigkeit und Freiheit, von Sozialismus, von Hoffnung. Und die ältesten der Alten erzählen in den Gemeinden von einem gewissen Zapata, der für die Seinen aufgestanden sei und dessen Stimme mehr sang als schrie: Land und Freiheit! Und diese Alten erzählen, jener Zapata sei nicht gestorben und werde zurückkehren. Und die ganz Alten erzählen, dass Wind und Regen und Sonne dem Bauern sagten, wann er seine Erde vorbereiten müsse, wann die Zeit zum Säen und Ernten gekommen sei. Und sie erzählen, auch die Hoffnung werde gesät und geerntet. Und die Alten sagen, dass Wind, Regen und Sonne jetzt anders zur Erde sprechen, dass sie aus all der Armut nicht länger den Tod ernten können, sondern dass es Zeit sei, den Widerstand zu ernten. So reden die Alten. Die Mächtigen hören nicht, sie können nicht hören, sind taub vom Stumpfsinn, mit dem die Imperien ihnen die Ohren verstopfen. «Zapata», wiederholen leise die Jungen der Armen, «Zapata», beharrt der Wind, der von unten kommt, der unsere …

Zweiter Wind, der von unten,

der erzählt, wie sich Würde und Rebellion im Südosten verbünden, und von anderen Ereignissen, in der Gegenwart ignoriert, aber mit absehbaren Folgen.

Dieses Volk wurde würdig und rebellisch geboren, verbündet mit dem Rest der Ausgebeuteten des Landes nicht durch den Anschlussvertrag von 1824, sondern über eine lange Kette von Erniedrigungen und Aufständen. Seit den Zeiten, in denen Talar und Rüstung diese Erde eroberten, lebten und verbreiteten sich Würde und Rebellion mit dem Regen.

Es wurde irrtümlicherweise gesagt, das chiapanekische Rebellentum habe eine andere Zeit und stimme nicht mit dem nationalen Kalender überein. Lüge. Die Spezialität des chiapanekischen Ausgebeuteten ist dieselbe in Durango, Bajío oder Veracruz: Kämpfen und verlieren. Es gibt keinen historischen Kalender, weder national noch regional, der alle und jede einzelne der Rebellionen und Unstimmigkeiten gegen das aufgezwungene und mit Blut und Feuer im ganzen nationalen Territorium aufrechterhaltene System festhalten würde. In Chiapas wird diese rebellische Stimme nur gehört, wenn die kleine Welt der Grossgrundbesitzer und Händler erschüttert wird. Dann allerdings widerhallt das Geschrei von der indianischen Barbarei in den Mauern der Regierungspaläste, und die Maschinerie rollt an: Drohung, brennendes Blei, Gefangenschaft, Betrug. Wenn die Rebellionen im Südosten scheitern wie diejenigen im Norden, im Zentrum und im Westen, so ist es nicht wegen der zeitlichen Unstimmigkeit, sondern weil der Wind eine Frucht der Erde ist; er hat seine Zeit und reift nicht in den Büchern der Wehklagenden, sondern in den organisierten Herzen derjenigen, die nichts haben als Würde und Rebellentum. Und dieser Wind von unten, der Wind der Rebellion, der Würde, ist nicht nur die Antwort auf den von oben auferlegten Wind, er ist nicht nur eine wütende Entgegnung, er trägt auch einen neuen Entwurf, er bedeutet mehr als die Zerstörung eines ungerechten und widersprüchlichen Systems, ist vor allem eine Hoffnung: die Hoffnung, Würde und Rebellion verwandelten sich in Freiheit und Würde.

Wie wird diese neue Stimme in diesen Gegenden und all den andern Regionen des Landes zu hören sein? Wie wird dieser versteckte Wind wachsen, der jetzt in Bergen und Schluchten säuselt, ohne in die Täler hinunterzudringen, wo das Geld befiehlt und die Lüge regiert? Aus den Bergen wird dieser Wind kommen, er wächst bereits unter den Bäumen, verschwörerisch, für eine neue Welt.

Fünftes Kapitel, worin erzählt wird, wie die indigene Würde

sich in Bewegung setzte, wie die Stimmen von früher sich heute wiederholen und wie die Musik des Todes, die heute nur für diejenigen spielt, die nichts haben, für andere ertönen wird. Auch ist die Rede von weiteren wunderlichen Dingen, die, wie gesagt wird, geschehen werden.

Der indigene Marsch Xi’Nich (Ameise), durchgeführt von Bauern aus Palenque, Ocosingo und Salto de Agua, zeigt die Absurdität des Systems. Diese Indígenas liefen 1106 Kilometer, um angehört zu werden, sie gelangten bis in die Hauptstadt der Republik, damit die Zentralmacht ihnen eine Audienz beim Vizekönig gewähre. Sie erreichten die alte Hauptstadt Neuspaniens, heute Mexiko-Stadt, genau 500 Jahre nachdem der fremde Alptraum sich der Nacht dieser Erde bemächtigt hatte. Sie kamen, und es erhörten sie all jene ehrlichen und noblen Menschen, die es gibt - und es gibt sie noch -, und auch die Stimmen derer, die heute Südosten, Norden, Zentrum und Westen der Heimat unterdrücken. Sie kehrten zurück, weitere 1106 Kilometer, die Taschen voller Versprechungen. Dann tat sich nichts, was neu gewesen wäre …

Im Gemeindehauptort von Simojovel griffen von Viehzüchtern aus der Gegend bezahlte Männer die Bauern an. Die Bauern von Simojovel beschlossen, nicht länger zu schweigen und die Angriffe der Grossgrundbesitzer höflich zu beantworten. Bauern umzingeln den Ort, niemand kommt oder geht ohne ihr Wissen. Die Bundesarmee geht in die Kasernen, die Polizei zieht den Schwanz ein, und die feudalen Staatsherren schreien nach Feuer, um Ordnung und Respekt wiederherzustellen. Verhandlungskommissionen kommen und gehen. Der Konflikt scheint gelöst, die Ursachen bleiben, und über alles breitet sich Ruhe.

In Marqués de Comillas, Gemeinde von Ocosingo, fällen die Bauern Holz. Die Polizei nimmt sie fest und beschlagnahmt das Holz. Die Indígenas besetzen die Lastwagen und nehmen die Polizisten gefangen. Die Regierung schickt Truppen, welche aber auch gefangengenommen werden. Die Indígenas lassen die Gefangenen frei. Keine Reaktion. Sie marschieren nach Palenque, die Armee setzt die Anführer gefangen, die Indígenas behalten die Lastwagen. Verhandlungskommissionen kommen und gehen. Die Regierung lässt die Führer frei, die Bauern geben die Lastwagen zurück. Der Konflikt scheint gelöst, die Ursachen bleiben, und über alles breitet sich Ruhe.

Im Gemeindehauptort Ocosingo demonstrieren, von verschiedenen Punkten der Stadt aus, 4000 indigene Bauern. Drei Demonstrationszüge treffen vor dem Stadthaus zusammen. Der Bürgermeister weiss nicht, worum es geht, und flieht. Auf dem Boden seines Büros bleibt ein Kalender liegen, er zeigt den 10. April 1992. Draussen tanzen Bauern aus Ocosingo, Oxchuc, Huistán, Chilón, Yajalón, Sabanilla, Salto de Agua, Palenque, Altamirano, Las Margaritas, San Cristóbal, San Andrés und Cancúc vor einem gigantischen Bild Zapatas, das einer von ihnen gemalt hat. Sie verlesen Gedichte und singen. Die Grossgrundbesitzer, Händler und Polizisten verstecken sich in ihren Häusern und Geschäften, die Kaserne scheint verlassen. Einer der Bauern verliest einen an Carlos Salinas de Gortari gerichteten Brief. Darin wird dieser angeklagt, die Erfolge der mexikanischen Revolution in der Landwirtschaft zunichte zu machen, das Land mit dem Freihandelsvertrag zu verkaufen und Mexiko in die Zeiten des Porfirismus zurückzuversetzen. Die Bauern erklären, dass sie die mit dem Verfassungsartikel 27 festgeschriebenen Reformen9 nicht anerkennen würden. Um zwei Uhr nachmittags verläuft sich die Menschenmenge, scheinbar ordentlich, die Ursachen bleiben, und über alles breitet sich Ruhe.

Antonio träumt, dass die Erde, die er bearbeitet, ihm gehöre. Dass sein Schweiss mit Gerechtigkeit und Wahrheit abgegolten werde. Dass es eine Schule gebe, um die Unwissenheit zu heilen, und Medizin, um den Tod zu erschrecken. Dass sich sein Haus erleuchte und sein Tisch fülle, sein Land frei sei und die Vernunft der Leute entscheide, wer regiere und wer regiert werde. Antonio träumt, dass er kämpfen muss für diesen Traum und dass es Tod geben muss, damit es Leben gibt. Antonio träumt und erwacht. Ein Wind kommt auf und bringt alles durcheinander, Antonio steht auf und geht, um sich mit anderen zu treffen. Etwas sagt ihm, dass sein Wunsch der Wunsch vieler ist, und er wird sie suchen.

Der Vizekönig träumt, dass sein Land von einem fürchterlichen Wind durchgeschüttelt werde. Dass ihm weggenommen werde, was er geraubt hat. Dass sein Haus zerstört werde und das Reich, das er regiert, untergehe. Er träumt und kann nicht schlafen. Also geht er zu den andern feudalen Herren, und die sagen ihm, sie träumten genau dasselbe.

In diesem Land träumen alle. Es ist Zeit zu erwachen.

Der Sturm

Er wird geboren aus dem Zusammenstoss der beiden Winde, schon naht seine Zeit, der Ofen der Geschichte wird angeheizt. Jetzt herrscht der Wind von oben, schon kommt der Wind von unten, schon naht der Sturm. So wird es sein.

Die Prophezeiung

Wenn der Sturm nachlässt, wenn Regen und Feuer die Erde wieder in Frieden lassen, wird die Welt nicht mehr die Welt sein, sondern etwas Besseres.


Übersetzung: Franziska Nyffenegger und Anne Huffschmid.