Fabrikbesichtigung: Das Glück der besten Kuh

Nr. 31 –

Vom einstigen Zellweger-Konzern in Uster ist nicht viel übrig geblieben. Heute pflegt nur noch die ehemalige Textilelektroniksparte das traditionelle Know-how der Region. Eine Spurensuche.

«Kennen Sie Zellweger Uster? Alfred Zellweger hat das elektrische Licht nach Uster ins Zürioberland gebracht, und später daselbst die erste Telefonleitung installiert.» So beginnt die Reportage von Isolde Schaad aus dem Jahre 1986 im Rahmen des im Limmatverlag erschienenen WOZ-Buches «Fabrikbesichtigungen»*. Vor zwanzig Jahren schrieb Schaad: «Oft in der Zeitung jetzt, der Zellweger, obschon doch ein zurückhaltender Grossbetrieb, ein leise in die Gewinnmaximierung kurvendes und in die Welt bis nach Neuseeland und Rotchina (wie man in Uster sagt) spiralendes Elektronikunternehmen von 430 Millionen Franken Jahresumsatz.»

Doch was ist heute, zwanzig Jahre später, aus dem «zurückhaltenden Grossbetrieb» geworden?

Zwischen dem Pfäffiker- und dem Greifensee, hier, wo sich einst entlang dem Aabach eine Spinnerei nach der anderen reihte, liegt auch das weitläufige Gelände des ehemaligen Zellweger-Konzerns. Eine schattenspendende Platanenallee führt durch das Industriegebiet in der Grösse von achtzehn Fussballfeldern. Dabei kommt man an zwei idyllischen Teichen vorbei, die vor zweihundert Jahren der ehemaligen Spinnerei Kunz als Wasserreservoir dienten. In einer solchen Umgebung mit dem Charme eines Naherholungsgebietes möchte man gerne arbeiten. Doch bald soll hier auch gewohnt werden. Die Industriellenfamilie Bechtler, die Besitzerin des 125 000 Quadratmeter grossen Areals, hat einiges vor mit der nicht öffentlich zugänglichen «verbotenen Stadt»: Hier wird in den nächsten Jahren ein neues Wohn- und Arbeitsquartier für Leute mit Geld entstehen. Das Konzept sieht einen Mix zwischen neuer Architektur und bestehenden Fabrikgebäuden vor.

Das bedeutet gleichzeitig das endgültige Aus für den 130-jährigen Zellweger-Konzern. Bereits vor Jahren hatten die Bechtlers - sie gehören zu den reichsten Familien der Schweiz - begonnen, den Industriekonzern zu zerstückeln. Vom Grossunternehmen mit einst über 2000 Angestellten ist heute nur noch ein kleiner Bereich mit etwa hundert Angestellten übrig geblieben. Auch dieser soll möglichst bald verkauft werden. Die Eigentümerfamilie - in der in Zug ansässigen Beteiligungsgesellschaft Hesta organisiert - möchte fortan als Finanzholding ihr Geld verdienen. Der Industriebetrieb Zellweger Luwa hatte wohl zu wenig Rendite abgeworfen.

Für andere war die Rendite hoch genug: Vis-à-vis von der denkmalgeschützten Spinnerei Kunz liegt das weisse, unauffällige Fabrikgebäude der Uster Technologies. Der Betrieb ging 2003 aus der Veräusserung der Textilelektroniksparte Zellweger Uster hervor: Eine schweizerische und eine deutsche Finanzierungsgesellschaft schnappten sich den lukrativsten aller Zellweger-Bereiche für 160 Millionen Franken und beteiligten sieben Kaderangestellte der Firma in einem Management-Buyout am neu entstandenen Betrieb. Doch noch immer verdient die Bechtler-Familie an ihrer ehemaligen Unternehmenseinheit, denn Uster Technologies ist auf dem Fabrikgelände eingemietet.

So etwas wie Ruhe

Seit dem Besitzerwechsel ist Ruhe in den Betrieb eingekehrt. Weder haben die neuen Besitzer den Mitarbeitenden eine weitere Restrukturierung zugemutet noch Stellen abgebaut. Etwa 250 Frauen und Männer arbeiten im fünfstöckigen Längsbau mit angebauter Shedhalle. Es gibt keine Hektik und keinen Lärm. Laute Maschinen fehlen weitgehend, denn hier wird hauptsächlich von Hand gefertigt. Das Produkt der Uster Technologies ist über Jahrhunderte weiterentwickeltes Know-how der Region: Der Betrieb produziert elektronische Geräte zur Qualitätsprüfung von Garnen in der Textilindustrie - und ist darin Weltmarktführer. Kein Wunder - vom Spinnen verstand man im Zürcher Oberland schon in der Vergangenheit eine ganze Menge: Im neunzehnten Jahrhundert war der Grossteil der Bevölkerung als SpinnerInnen und WeberInnen in der Baumwollindustrie tätig.

Damit Uster Technologies auch weiterhin mit seinen Produkten auf dem Weltmarkt bestehen kann, werden rund zehn Prozent des Umsatzes in Forschung und Entwicklung investiert. JedeR siebte Angestellte der Uster Technologies arbeitet in diesem Bereich, viele haben ihre Ausbildung an einer Schweizer Fachhochschule oder an der ETH absolviert. Nur die TextilingenieurInnen müssen im Ausland rekrutiert werden: Mit dem Niedergang der Schweizer Textilindustrie sind auch diverse branchenspezifische Berufszweige ausgestorben.

In den dämmrigen Fertigungshallen trennen gelbe Bänder auf dem Boden die Arbeitsplätze und Lager vom übrigen Raum ab. Jenseits der so genannten ESD-Zonen (ESD steht für electronic sensitive device) dürfen sich nur Personen aufhalten, die durch Spezialkleidung und -schuhe «neutralisiert» sind. Denn die Sensoren, die hier in ihre Gehäuse eingebaut werden, sind hochempfindliche Hightech-Produkte. «Die Berührung oder auch schon Nähe durch einen elektrostatisch aufgeladenen Menschen könnte unsere Produkte unbrauchbar machen» sagt Harry Baumann. Der Leiter der Abteilung Laborsysteme zeigt die ergonomisch eingerichteten Arbeitsplätze. Handwerksgerät und Schrauben liegen in zahlreichen Schachteln in Griffnähe ordentlich aufbewahrt. Die Arbeitstische sind in der Höhe individuell verstellbar. Vor allem männliche Angestellte stellen die Geräte zur Qualitätsprüfung von Garnen für Textillabors her. «Unsere Geräte bestehen aus bis zu 2000 Einzelteilen. Sie können je nach KundInnenbedürfnissen in 150 verschiedenen Varianten hergestellt werden», sagt Baumann. Zwischen 100 000 und 200 000 Franken kostet der so genannte Uster Tester 5 (die Zahl steht für die fünfte Generation) - zwischen 130 und 150 Stück werden davon jährlich weltweit verschickt. Die Hauptmärkte der Uster Technologies liegen in der Türkei, Pakistan, Indien und China. Das Laborgerät ist das Produkt jahrzehntelanger Tüftelei: Mit ihm können die Garne auf ihre Gleichmässigkeit, Form, Haarigkeit, Feinheit oder Verschmutzung hin analysiert werden.

Urgestein

In der Shedhalle mit ihren Oberlichtern hingegen montieren vorwiegend ausländische Frauen an ihren ebenfalls ergonomisch eingerichteten Arbeitstischen - darauf wird hier grosser Wert gelegt - einzelne Module zu einem elektronischen Garnreiniger, einem weiteren Vorzeigeprodukt des Betriebs. Der kleine Sensor wird in einer Spinnerei auf einer Spulmaschine installiert und identifiziert bei hoher Geschwindigkeit störende Dickstellen, Dünnstellen und Fremdfasern bei Garnen. Diese schneidet der Garnreiniger heraus und verbindet die losen Enden mit einem Spleiss. «Davon haben wir bereits über eine Million Stück verkauft und produzieren jährlich etwa 150 000 Stück», sagt Baumann. Auch in der Shedhalle werden die empfindlichen Sensoren durch gelbe SED-Bänder am Boden geschützt - und die Frauen vor den Fragen der Journalistin. Auch der regionale Unia-Gewerkschaftsvertreter kann nicht weiterhelfen bei der Frage, wie denn die Arbeitsbedingungen bei Uster Technologies sind. Nie hat eine Gewerkschaft hier Fuss gefasst, weder früher bei Zellweger, noch heute beim Nachfolgeunternehmen. Immerhin ist Uster Technologies dem GAV der Maschinenindustrie unterstellt.

Peter Mock ist ein Zellweger-Urgestein. «Ich begann 1981 als Reinzeichner und Grafiker in der Werbeabteilung von Zellweger - heute arbeite ich in der Marketingabteilung der Uster Technologies.» Schon in fast allen Gebäuden auf dem Areal hatte Mock seinen Arbeitsplatz - ein Resultat ständiger Restrukturierungen. «Damals nannten wir die Zellweger Uster AG intern nur noch ZAG, Zügeln aus Gewohnheit.»

Seit der Loslösung von Zellweger könne man sich wieder auf das Geschäft konzentrieren. Gleichzeitig hat sich für Mock auch vieles verändert. «Früher waren wir ein Gemischtwarenladen. Wir mussten in unserer Abteilung sozusagen für ‹Chrut und Rüebli› Werbung machen, Messen organisieren oder Produktebroschüren und Handbücher verfassen. Meine Arbeit war extrem vielseitig - aber manchmal auch recht anstrengend.» Damals gab es sogar eine Hauszeitung mit einem eigenen Redaktor, die im Haus gedruckt wurde. Was hält Mock davon, dass die Bechtlers ausgerechnet den lukrativsten Unternehmensbereich als Erstes abgestossen haben? «Für uns war es eine gute Entscheidung. Die beste Milchkuh im Stall wurde selbständig, die Gewinne fliessen nun am Ende des Jahres nicht mehr in die anderen, weniger gut verdienenden Divisionen.»

Boomende Märkte

Richard Furter gehört zu den ehemaligen Kaderangestellten, die sich 2003 am Management-Buyout beteiligt haben. «Die meisten von uns konnten sich durch die Erhöhung ihrer Hypotheken das Geld für die finanzielle Beteiligung verschaffen», sagt Furter. Auch er hat einen langen Atem: Seit über dreissig Jahren arbeitet Furter bei Zellweger beziehungsweise bei Uster Technologies. Der Leiter der Abteilung Textiltechnologie hat im obersten Stockwerk des Fabrikgebäudes ein kleines Museum eingerichtet. Die Sammlung von alten Maschinen und Kopien verschiedener Patente sollen an die Wurzeln der Uster Technologies erinnern.

Die Textilindustrie ist ein stark zyklisches Geschäft. Seit 2005 befindet sich die Branche in einem Hoch und mit ihr auch Uster Technologies. Dies ist vor allem den boomenden Märkten in China und Indien zu verdanken. Vor der Übernahme erzielte die Sparte einen Umsatz von über 140 Millionen Franken, wie viel es heute ist, gibt das Unternehmen nicht bekannt. Furter glaubt nicht, dass die zwei Grossinvestoren Capvis und Quadriga, die Uster Technologies übernommen haben, vor allem viel Geld mit dem Betrieb verdienen wollen und ihn sofort an den Nächstbesten verkaufen würden, um einen möglichst hohen Gewinn zu erzielen. Die bisherigen Erfahrungen würden auf ein längerfristigeres Interesse an der Firma hinweisen: «Quadriga und Capvis sind durch drei Personen im Verwaltungsrat vertreten. Wir haben zu den neuen Besitzern engeren Kontakt als zu den vorherigen.» Auch dies wertet Furter als positives Zeichen. Trotzdem: Noch selten haben Finanzierungsgesellschaften dem Charme eines guten Kaufangebotes widerstehen können. Doch davon will heute bei Uster Technologies niemand etwas wissen.

Bald also kriegen die Frauen und Männer der letzten noch operativen Einheit des ehemaligen Zellweger-Konzerns neue NachbarInnen auf dem Areal in Uster: Neue Dienstleistungsgebäude für über 1000 Arbeitsplätze befinden sich in Planung wie auch rund dreihundert Wohnungen für 600 bis 800 Personen. Die «verbotene Stadt» wird zum öffentlichen Quartier.

*Die Reportage «Das Gute ist geblieben, obschon das Neue schon lange begonnen hat» von Isolde Schaad erschien in: «Fabrikbesichtigungen». Limmat Verlag und Wochenzeitung. Zürich 1986. 207 Seiten. 29 Franken.