Sommer 1997: Zwischen warmen Regengüssen dösen zwei engagierte Kulturschaffende in einem eidgenössischen Strassencafé: lifegestylt und dresscodiert. Rundum also auf der Höhe, von der herab die Aussicht frei ist auf den medialen Showdown zwischen zwei Dinosauriern: Das Viech «Blocherschweiz» speit Feuer und Flamme gegen das Viech «Classepolitique». Und umgekehrt. Bisschen bemühend. Worum die sich streiten? Sterben sowieso nächstens aus. Brummelt der eine: «Eigentlich könnte uns der Staat anständig fördern, wozu gibt’s denn den sonst?» Plaudert nach einer Kaffeepause die andere: «Unglaublich, aber wahr: Es gab eine Zeit, in der man öffentlich sagen konnte: ‘Man ist nicht realistisch, indem man keine Idee hat.’ Muss ein heavy Fundi gewesen sein. Wollte eine Stadt gründen als nationale Landesausstellung. Lange her, Holozän, mindestens. Hiess irgendwie amphibisch, der Knabe, Fisch oder Frosch.» Ansonsten: Gut, regnet’s zwischendurch. So läuft doch ab und zu was.
1954 hat Max Frisch in seinem Text «achtung: Die Schweiz», in dem er statt der Expo ’64 die Gründung einer Stadt vorschlug, auch geschrieben: «Wer aber überhaupt keinen Vorschlag haben will, überhaupt nicht einsieht, dass etwas getan werden muss, der soll sich nicht wundern, wenn er eines bitteren Morgens überhaupt nicht mehr befragt wird, was er will.» Zur Zeit bitten die AnimatorInnen der Expo 2001 um Projektvorschläge, und in den eidgenössischen Strassencafés schaut man gelangweilt weg. Am einfachsten ist es in diesem Fall, keinen Vorschlag zu haben. Ästhetisch unsichere Zeiten: Jede Idee hat die Tendenz, lächerlich zu sein, noch bevor man sie auch nur effektvoll angekündigt hat.
In den letzten zehn Jahren sind Kultur und Gesellschaftspolitik, die zu anderen Zeiten ganz selbstverständlich zusammengehörten, auseinandergedriftet. Für die Leute der Kultur sind die Politis von Jahr zu Jahr ein bisschen mehr auf eine ganz bestimmte, unfeine Art démodé geworden; für gesellschaftspolitisch Engagierte umgekehrt basteln die KultürlerInnen immer ausschliesslicher an politisch irrelevantem, kindischem Schrott. KultürlerInnen ziehen in ihren Spielwiesen-ghettos auf kargen Holzböden autonome Pflänzchen, versuchen mit dilettierender Standespolitik, die Preise für ihre Erzeugnisse über dem Nullpunkt zu halten, und weisen jedes weitergehende Sich-in-Dienst-Stellen als Zumutung zurück. Die Politis staunen alleingelassen die Epochenfragen an, die jeden vernünftigen Menschen unablässig beschäftigen müssen: Wie ist der Sozialstaat gegen Deregulierung und Globalisierung zu verteidigen? Und wenn er sich denn Europa doch anschliesst: zu welchem demokratiepolitischen, sozialen und ökologischen Preis?
KultürlerInnen und Politis, die «kritischen Intellektuellen» des Landes, sind zur Zeit nicht disponiert für einen gemeinsamen wirkungsvollen öffentlichen Auftritt. Trotzdem ist der Slogan «Expo 2001 - ignorieren statt boykottieren» ein bisschen zu wohlfeil: So zu tun, als hätten wir in diesem Land und an diesem Land mit seinen sozialstaatlichen Netzen nichts mehr zu verlieren, wäre denn doch zu kurzsichtig und zu dumm.
Landesausstellungen waren in der Schweiz seit je einerseits international ausgerichtete Industriemessen und Leistungsschauen, andererseits Festspiele im republikanischen Sinn - «fast ein Initiationserlebnis, bei dem man lernt, nicht nur von Freiheit zu reden, sondern sich frei zu fühlen», wie Adolf Muschg anlässlich des Gespräches sagte, das in dieser Ausgabe in Auszügen dokumentiert wird (siehe Seite 3). Es gibt an der nächsten Landesausstellung jenseits der Geranienfassaden der «Blocherschweiz» und der hektisch-kommerziellen Internationalität der offiziellen Schweiz sehr wohl berechtigte Bedürfnisse zu verteidigen; Muschg fasst sie im Begriff der «Lokalisation» zusammen: Sich physisch verschieben, hingehen, das Hier und Jetzt ernst nehmen, spontane Kommunikation als Freiheitserfahrung inszenieren. «Lokalisation» schliesst zwar an republikanische Tugenden des 19. Jahrhunderts an, wird aber heute vom Entfremdungspotential der Globalisierung neu erzeugt und bewusst gemacht. Für diese wieder möglich- und nötiggewordene republikanische Selbstvergewisserung steht heute weder die «Blocherschweiz» noch die offizielle.
Einmischung der «kritischen Intellektuellen» ist also nötig. Aber wie? Sind sie nicht leibhaftige Paradoxien geworden, Propheten ohne Botschaft? Sie haben kein neues politisches System vorzuschlagen, keine Aufklärung will menschenfreundliche Errungenschaften anpreisen, jeder Stadtentwurf wäre lächerlich. Was aber ist noch möglich, wenn schon nicht Produkte und nicht Projekte? Prozesse.
Hand aufs Herz, chers compatriotes, als ihr letzthin über Land spaziertet und ihr euch in stiller Betrachtung all dessen ergingt, was man in einer WoZ-Titelgeschichte unmöglich aufzählen kann, ohne als birnenweich tituliert zu werden (Wälder, Getreidefelder, Abendlicht, Voralpen unter Gewittergewölk und die nächste Dorfbeiz laut Wanderwegschild gerade eine Viertelstunde entfernt) - ist euch da nicht auch schon, in einem von kritischer Reflexion unbewachten Augenblick, plötzlich durch den Kopf gegangen: Thonnerwetter, aus diesem Landstrich könnte man was machen! Das meiste vorhanden - vielleicht viel zuviel; alles funktioniert - vielleicht viel zu gut; und ausgerechnet jetzt, wo’s losgehen könnte, weiss niemand weiter. Und wenn ihr dann tags darauf wieder dezent gelangweilt auf den Dinosaurierkampf hinunterblicktet, seid ihr nicht auch schon einmal von dieser verblüffend einfachen Idee angefallen worden: Eigentlich müsste man jetzt, gleich auf der Stelle, aufstehen, dieses eidgenössische Strassencafé verlassen, die besten Leute, die man findet, versammeln und gemeinsam die Schweiz neu erfinden: palavern, projektieren, inszenieren. Einzige Spielregel: Der Dienstweg ist ausgeschlossen; wer mit Dinosauriern liebäugelt, wird selber einer und stirbt nächstens aus.
Pardon. Was ich sagen wollte: Nach einer Phase fundierter diskursiver Reflexion wird zu entscheiden sein, inwiefern der Bezugsrahmen der Expo 2001 als Praxisfeld für kritische Intellektuelle erfolgversprechend sein könnte. Aber Achtung: Auch wenn er dies nicht ist, werden jene nicht davon enthoben, sich zu diesem Ereignis irgendwie zu verhalten. Warum eigentlich immer reagieren statt agieren? Warum immer protestieren statt initiieren? Warum nicht einfach mal was unternehmen?
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