Das Wort «Globalisierung» war noch nicht erfunden, da machte die WOZ sich auf, die «Hinterhöfe» zu besichtigen: Im Rahmen einer Serie schrieben WOZ-AutorInnen über Schweizer «Multis» (ein Wort, das seine Hochkonjunktur hinter sich hat) - Mövenpick in Ägypten, Sulzer in Indien, SIG in Chile, Schindler in China. Und weil Globalisierung nach grossen Kellen ruft, plante man die Serie, entstanden in Zusammenarbeit mit der Erklärung von Bern und finanziell unterstützt vom WOZ-Recherchierfonds und der Christoph-Eckenstein-Stiftung, als ein Buchprojekt. «Besichtigung der Hinterhöfe» erschien im Herbst 1989 im Rotpunktverlag.
Am 14. April 1989 beschreibt die freie Journalistin Heidi Stutz in ihrer Reportage mit für heutige Verhältnisse epischer Länge die Sandoz-Fabrik in Jamshoro in Pakistan. Eine zwielichtige Gegend: «Und schon mahnt er, abends rechtzeitig aufzubrechen, weil nach Anbruch der Dunkelheit Räuberbanden Fahrzeuge stoppen und die Insassen entführen.» Auch der «PR-Mann mit dem Schriftzug ‹Playboy› am Brillenbügel ist froh», als man heil ankommt.
Pharmazeutika, Farben und Agrochemie stellt Sandoz in der noch heute existierenden Fabrik her. Stutz beschreibt die monotonen Arbeitsbedingungen, die prekären Anstellungsverhältnisse und dass die Männer an den moderneren Anlagen arbeiten, die Frauen an den älteren. Und sie misstraut den schönen Worten der Manager. Doch an die Angestellten kommt sie nicht richtig ran. Die ArbeiterInnen, die im Beisein der Bosse befragt werden können, sind «alle mindestens fünf Jahre festangestellt und glücklich»; die rhetorischen Fragen der Autorin bleiben unbeantwortet: «Haben die ArbeiterInnen mit Mitleid auf ‹Bhopal› reagiert und nicht überlegt, was bei ihnen passieren könnte?» - «Was haben die Frauen und Männer an den Fliessbändern wohl gedacht, als das verkaufsstarke Durchfallmittel Intestopan vor einem Jahr plötzlich in Neo-Intestopan umgemodelt wurde, weil sein alter Wirkstoff die Smon-Krankheit auslösen kann?»
Eher rührend als schockierend wirkt aus heutiger Sicht die Bemerkung über das Management: «Das Zehn- oder Zwanzigfache vom Lohn der Packer und Packerinnen reicht für diesen Lebensstil nicht aus.» Wir haben uns längst daran gewöhnt, dass der CEO der Sandoz-Nachfolgerin Novartis an einem Tag mehr verdient als die meisten seiner Schweizer MitarbeiterInnen im Jahr (und das 20 000-Fache des in der Reportage genannten Lohns der pakistanischen PackerInnen).
Die Sandoz war in WOZ-Artikeln immer mal wieder «Gast» - etwa 1986, als nach einem Grossbrand im Sandoz-Werk Schweizerhalle («Ein Schuppen voll Agrobusiness und Neokolonialismus», WOZ vom 7. November 1986) verseuchtes Löschwasser den Rhein vergiftete. Oder 1996, als Sandoz mit Ciba-Geigy zu Novartis fusionierte. Heute ist Sandoz die Generika-Marke von Novartis, und Generika haben derzeit gute Presse. Das heisst nicht, dass die nächste kritische Sandoz-Geschichte in der WOZ nicht schon bald folgen könnte ...
Gegen Ende des Textes finden Stutz und von Arb dann doch noch ein paar Leute, die sich offen über Sandoz äussern. Etwa darüber, dass - entgegen der Aussage des Fabrikdirektors - das Dorf von der Wasserleitung zur Fabrik nicht profitiere. Oder dass ein Festangestellter, als er im Spital lag, weder seinen Lohn erhielt noch die Behandlungskosten bezahlt wurden. Zwei «Männer aus dem unteren Management» geben ebenfalls Auskunft: «Ihre Sorgen sind andere, als wir dachten. Wir sollen die Basler Konzernspitze warnen, dass Sandoz hier von den eigenen Leuten übers Ohr gehauen werde.»
Statt mit Sandoz in Basel nahm die Autorin nach ihrer Reise mit einer Schweizer Gewerkschaft Kontakt auf - ein pakistanischer Arbeiter hatte darum gebeten. Diese aber fand, die Probleme im Ausland gingen sie nichts an. Globalisierung existierte in den Köpfen eben noch nicht, damals, 1989.
Den vollständigen Text von Heidi Stutz aus WOZ Nr. 15/1989 finden Sie hier: Sandoz in Pakistan.
Gaby Weber u.a. (Hg.): «Besichtigung der Hinterhöfe. Reportagen über die Geschäfte der Schweizer Multis in Afrika, Asien und Lateinamerika». Rotpunktverlag. Zürich 1989. 233 Seiten. 29 Franken.
Bis zu unserem Jubiläum im Herbst werden wir an dieser Stelle eine kleine Auswahl von Highlights vorstellen, die in der jeweiligen Kalenderwoche in der WOZ erschienen sind. Diesmal ist die Kalenderwoche 15 Anlass zum Rückblick auf eine Reportage aus einer Sandoz-Fabrik in Pakistan im Jahr 1989.
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Lieber gar nichts schreiben als die Gerüchte in den anderen Medien wiederholen - so dachte wohl die WOZ-Redaktion. Zwanzig Jahre später wirkt es dennoch seltsam: In der WOZ vom 30. April 1986 steht nämlich nichts über Tschernobyl. Kein einziges Wort.
«Banken-Sound-Age» und «Bankverein kauft Pop und Jazz» war auf der ersten Seite der WOZ vom 6. März 1987 zu lesen. WOZ-Redaktor Patrik Landolt führte ein Interview mit Markus Bodmer, der beim Schweizerischen Bankverein für PR-Aktionen und Sponsoring verantwortlich war. Der Inhalt des Interviews gefiel weder den Wochen später zu Wort kommenden MusikerInnen, noch Bodmers Vorgesetzten beim Bankverein, die sich in einer Stellungnahme von Bodmer distanzierten.
«Bitte rufen Sie die Polizei nicht an, wenn Sie das Gefühl haben, ein Fixer oder ein Dealer werde zu hart angefasst», bat die Zürcher Stadtpolizei im Januar 1995 die Zürcher Bevölkerung. Und Roger de Weck, damals Chefredaktor des «Tages-Anzeigers», erteilte den PolizistInnen die Generalabsolution mit der Bemerkung, «es werde wohl nicht jedem Polizisten gelingen, die Verhältnismässigkeit zu wahren». Angesichts der offenen Drogenszene am Letten und deren anstehender Räumung waren nicht aufmerksame BürgerInnen gefragt, die dem Staat und seinen Organen auf die Finger schauten.
Die Schweizerische Depeschenagentur tippte praktisch nur den Pressetext der Bündner Polizei ab. Der «Tages-Anzeiger» titelte «Massenkontrollen verhinderten Nachdemos». Der «SonntagsBlick» schrie: «An der Kundgebung in Chur hielten sich die Chaoten zurück. In Landquart zeigten sie ihr wahres Gesicht». Die «Neue Zürcher Zeitung» erkannte: «Mit kluger Taktik Eskalation verhindert». Und der «Blick» sah: «Wef-Chaoten schlugen wieder in Landquart zu». Auch die «Südostschweiz» quengelte: «In Landquart haben es rund 500 Wef-Demonstranten auf die Spitze getrieben.
Es war ein 1. Mai wie jedes Jahr in Zürich: Zuerst der grosse Umzug, dann für die meisten das gemütliche Fest im Kasernenhof und für die anderen die nicht so gemütliche Nachdemo. Doch 1996 wurde es für alle ungemütlich: «Die Zürcher Polizei hat mit einem an Brutalität bis anhin kaum gesehenen Einsatz die Nachdemo aufzulösen versucht und dabei Dutzende von Tränengaspetarden in den abgeriegelten Festhof geknallt», schrieb Patrik Landolt zwei Tage später auf der Titelseite der WOZ. «Mehrere Zeugen beobachteten, wie Polizisten gezielt über die Zeughäuserbauten in den Festhof schossen.