Zürich - Spekulation grenzenlos. Ein Haus, zum Beispiel die Seefeldstrasse 92, wird gekauft und verkauft, einmal, zweimal und nocheinmal. Der Preis steigt in schwindlige Höhen. Auf der Strasse rufen die Leute den Wohnungsnotstand aus und werden zusammengeknüppelt.
«Der im Stil deutscher Renaissance reich gegliederte Bau bildet mit den Nachbarhäusern das grösste bauliche Ensemble aus der Gründerzeit in Riesbach. Unter Denkmalschutz seit 1985.»
Das steht auf einer Tafel, die am Haus Seefeldstrasse 92 angebracht ist. Der reich gegliederte Bau mit den von Atlanten gestützten Balkonen, mit Wintergärten und der von allerhand Schnörkeln und Giebeln verzierten Fassade war einmal ein schönes Beispiel für das «während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandene gehobene Wohnquartier» (Denkmalschutz) im Zürcher Seefeld. Heute ist das fast hundertjährige Haus ein ebenso schönes Beispiel für den während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandenen, gehobenen Citydruck auf das Seefeldquartier. Die jüngste Geschichte dieses Hauses ist eine Folge von schnellen Handwechseln zu immer bunteren Fantasiepreisen, bei denen wohl selbst abgebrühteren SpekulantInnen die Knie weich werden.
Den Mieterinnen und Mietern, die im Haus wohnten und/oder arbeiteten wurde vor dem letzten Verkauf gekündigt, eines der vier Stockwerke mit den grossen Fünfzimmewohnungen zu 2200 Franken steht seit letztem Herbst leer. Nach Verkauf flatterten neue Einzahlungsscheine in die Briefkästen, aufgrund derer die Mieterlnnen erst erfuhren, dass und an wen das Haus verkauft worden ist. Im zweiten Stock des Hauses führt Wirtschaftsanwalt und FdP-Mitglied. Peter E. Scherrer seine Anwaltspraxis. Von Spekulation ist in Zürich mittlerweile auch der höhere Mittelstand betroffen. Der aufgebrachte langjährige Mieter Scherrer, will sich nicht so leicht vertreiben lassen, sondern Öffentlichkeit schaffen und den neuen BesitzerInnen die Suppe durch Ausnutzung seiner Rechte noch etwas versalzen. Schliesslich hat er, erzählt er in seinem komfortablen Büro, «in dem Haus meine schönste Zeit nach meiner Jugend verbracht». Und ausserdem: Er war selber einmal potenzieller, aber überbotener Käufer.
«Billiger Wohnraum ist in Zürich bereits weitgehend zerstört. Der Leerwohnungsbestand liegt schon seit Jahren unter der vom Eidgenössischen Amt für Statistik festgelegten Notstandsmarke. 80000 Menschen mussten in den letzten 25 Jahren die Stadt verlassen. Nichtsdestotrotz soll diesen Frühling (mit dem Abbruch und der Räumung zahlreicher Häuser, die Red.) eine weitere Etappe folgen. Wir lassen uns nicht ausMÄRZen!» So ruft ein Flugblatt in Zürich zum wöchentlichen «Auflauf gegen die Speckis. Wohnungsnotstand!» auf, der bereits dreimal stattgefunden hat. An der ersten Kundgebung der Obdachlosen und von der Wegsanierung Bedrohten hatte ein starkes Polizeiaufgebot mit einem Gummigeschosseinsatz der an die Kundgebung anschliessenden Demonstration ein Ende gesetzt. Durch den überfallartigen Einsatz wurden zahlreiche Leute verletzt. Eine Frau erlitt eine Gehirnerschütterung, ein Mann hatte eine offene Platzwunde unter dem Auge.
Im Jahre 1981 hatte der «Sidebodmer», wie Hans Bodmer von der Bodmer AG genannt wird, das Haus Seefeldstrasse 92 gekauft - für weniger als eine Million; so tief sei der Preis vielleicht gewesen, weil früher im Haus ein Puff war, meint Anwalt Scherrer. Bodmer bot seinem Mieter Scherrer das Haus dann 1985 für 3,8 Millionen Franken an, damit mache er «den Deal seines Lebens», soll Bodmer zu ihm gesagt haben. Scherrer zögerte, ihm schien der Kauf finanziell riskant. Er selber hatte immer schon Interesse gezeigt, «im grössten baulichen Ensemble aus der Gründerzeit», zu dem die Häuser 88 bis 92 gehören, mit einem Hauskauf sesshaft zu werden. Beim Verkauf des Hauses Nummer 88 konnte er jedoch mit den Preisen nicht mithalten, und die Nummer 90 hatte die Besitzerin kurz vor ihrem Tod unglücklicherweise nicht an ihn verkauft.
1987 entschloss sich Bodmer, das Haus zu verkaufen. Der zögernde Scherrer sah, mit einer Vollmacht ausgestattet, den eingeschätzten Wert des Hauses Nummer 92 auf dem Grundbuchamt ein. Irgendwie jedoch muss die Konkurrenz von dem zum Verkauf stehenden Haus Wind gekriegt haben. Ein Rudolf Schnieper schnappte sich das Haus - als vorgeschobener. Käufer für einen unbekannten Besitzer (wobei der Name Goetz genannt wird), als Verwalterin fungiert die Immobilienfirma Dreipunkt AG - zum stolzen Preis von sechs Millionen Franken. Die Bank hätte maximal einen Verkaufswert von vier Millionen mit Hypotheken gedeckt. Der neue Besitzer hatte auf jeden Fall nicht im Sinn, im Haus sesshaft zu werden. Er kündigte den Mieterinnen und Mietern und suchte einen Käufer oder eine Käuferin. Die MieterInnen erreichten durch einen von Scherrer angestrengten Vergleich vor dem Mietgericht eine Mieterstreckung bis Ende September 1989. Der nächste Käufer hiess Grob. Dieser wollte das Haus zu einem Preis von weit über sechs Millionen Franken kaufen, stürzte aber vor beendeter Zahlung in einem Helikopter ab.
Zwischen zwei- und dreihundert Leute versammeln sich am Donnerstagabend 9. März auf dem Hirschenplatz zum «Auflauf». Die Polizei ist diesmal schon von Anfang an auf und rund um den Hirschenplatz präsent. Leute werden durchsucht, Transparente und Flugblätter beschlagnahmt, die Leute sollen eingeschüchtert werden. Die Polizei versucht der breit angelegten Frühlingsmobilisierung gegen Spekulation ein Ende zu setzen. Als ein Sprecher mit einem Megafon die Kundgebung eröffnen will, stürzt sich ein polizeilicher Greiftrupp in die Menge, um ihn zu verhaften. Eine Rempelei entsteht. Mitten in der Menge gibt ein Polizist einen Schuss mit dem Gummischrotgewehr ab. Ein Getroffener muss sich darauf ärztlich behandeln lassen. Die Leute fliehen vom Platz, einzelne werden verhaftet; eine der heftigsten Auseinandersetzungen in Zürich seit Jahren beginnt.
Nach dem plötzlichen Tod des Käufers Grob mussten neue InteressentInnen für das Haus gesucht werden. Im Dezember 1988 kauften der Architekt Carlo Albisetti, der Sanitär Celeste Lips, beide Verwaltungsräte der Immobilienfirma Cywa AG in Zollikon zusammen mit Brigitte Rimensberger das Haus - ohne es vorher besichtigt zu haben, sagen die Mieter. Den Preis schätzen sie auf sieben bis acht Millionen Franken; keine bescheidene Summe, besonders dann nicht, wenn man wie der Käufer Albisetti 1988 null Vermögen und bloss 597000 Franken Einkommen, oder wie die Käuferin Rimensberger null Vermögen und 60000 Franken Einkommen versteuert. Selbst Banken zögern bei derart übersetzten Preisen und verlangen von KäuferInnen als Sicherheit mehr als die zehn Prozent Anzahlung - welche in diesem Fall für die drei KäuferInnen je rund vier ihrer angegebenen Jahreslöhne ausgemacht hätte.
Wie mit einem solchen Einkommen das Haus gekauft werden konnte, wollte der neue Besitzer Albisetti am Telefon nicht verraten, auch nicht, was für Pläne mit dem Haus gehegt werden. Das Haus soll Ende Jahr umgebaut werden, sagt die neue Besitzerin Rimensberger, und der genannte Preis sei falsch. Einige Japaner hätten sich das Haus angesehen, sagt einer der alten Mieter. Rimensberger bestreitet auch, was sie zu Scherrer bei einer Hausvisite gesagt haben soll: Eine japanische Finanzgesellschaft habe ihnen für das ganze Haus eine Offerte gemacht, mit einer Jahresmiete pro Quadratmeter von 1300 Franken, was ein Mehrfaches des heutigen Preises ausmachen würde.
Nach weiteren Zusammenstössen in der Innenstadt treibt die Polizei mit Gummi und Tränengas Leute bei der Globuswiese auseinander, die sich dort erneut zur Kundgebung getroffen haben. Wieder einmal klirrt es in der Zürcher Bahnhofstrasse. Am späten Abend versuchen die Leute, eine Solidaritätdemonstration für die Verhafteten durchzuführen. Die Polizei spricht am Freitag von einer Person, die vorübergehend festgenommen worden sei, Laut Augenzeuglnnen sollen es mindestens fünf gewesen sein. Nach einem neuen Polizeieinsatz entwickelt sich rund ums Kanzleizentrum eine Strassenschlacht, die sich stundenlang hinzieht. Zahlreiche Scheiben des gegenüberliegenden Sozialamtes gehen in die Brüche, Barrikaden brennen auf der Strasse.
Am nächsten Morgen schickt Polizeisprecher Hans Holliger eine Polizeimeldung zu den Ereignissen der vergangenen Nacht an die Medien. Am Ende des ausführlichen Telex der entnervte Pressesprecher: «Was haben die Sachbeschädigungen mit der Wohnungsnot zu tun?»
Spenden
Hat Ihnen dieser Text gefallen? Hat er Ihnen geholfen, Ihre Haltung zum
Thema zu schärfen, oder hat er Sie vortrefflich provoziert? Und was ist
Ihnen das wert? Unabhängiger Journalismus ist auf einen Beitrag vieler
angewiesen.