Online-Tagebuch der WoZ: Berichte aus dem Innern des Ungeheuers

Nr. 22 –

Das Online-Tagebuch der WoZ mit täglich neuen schonungslosen Enthüllungen. Diese Woche von Bettina Dyttrich, Korrektorat.

Tagebuch Donnerstag, 23. Mai 2002

Ich habe keine Lust, über den Alltag im Korrektorat zu schreiben! Stellt ihn euch doch selber vor und lernt endlich die neue Rechtschreibung!

Dafür möchte ich einen Beitrag leisten zur Diskussion zum versprochenen Ausbau der Zeitung. Neue Seiten solle es geben im Herbst, hat die WoZ kürzlich versprochen, damit die LeserInnen nicht allzu sauer sind über das Ende von «WoZ Luzern». Was auf den neuen Seiten stehen soll, darüber ist sich das WoZ-Plenum allerdings noch nicht einig. Einer der Vorschläge war eine Jugendseite. Als jüngstes Genossenschaftsmitglied bin ich dafür doch die Expertin!

TIRADE GEGEN EINE JUGENDSEITE

Ich nehme an, die meisten 30-, 40- oder 50-Jährigen möchten nicht über ihr Alter definiert werden. Ist ja auch eine blödsinnige Idee, zu glauben, Leute, die zufällig im gleichen Alter sind, seien eine homogene Gruppe. Was, Sie sind gleich alt wie a) Thomas Fuchs, b) Ruth Metzler, c) Esther Maurer, d) Rita Fuhrer, e) Christoph Blocher? Dann müssen Sie bestimmt etwas gemeinsam haben. Blödsinnig, oder? Bei «den Jugendlichen» wird das aber dauernd gemacht (in einem etwas kleineren Ausmass auch bei «den Älteren», was auch einiges über ihre gesellschaftliche Stellung aussagt). Natürlich haben «die Jugendlichen» gewisse ähnliche Probleme, weil sie alle die Wahl haben, entweder in einer Mittelschule oder gleich in der freien Marktwirtschaft gequält zu werden, alle irgendwann zum ersten Mal Sex haben, zum ersten Mal Drogen ausprobieren etc. Aber, sorry, WoZ, was willst du da? Die Sexualaufklärung macht die «Bravo» schon besser als du, was so alles passieren kann beim Konsum von bewusstseinsverändernden Chemikalien, erfahren Naive aus den Broschüren, die sie in der Schule bekommen, Aufgewecktere aus Büchern von Aldous Huxley, William Burroughs, Irvine Welsh usw. Jetzt sagt ihr wahrscheinlich, ich stellte mir die Altersgruppe etwas falsch vor, die Jugendseite sei eher so ähnlich gedacht wie der «Toaster», der diesen Winter eingegangen ist. Weiss ich doch. Aber das ändert nichts: Als der «Toaster» noch gut war, war er eine Stadtzeitung, für die die eine Zeit lang übliche Alterszuschreibung «für 16- bis 26-Jährige» absurd wirkte. Natürlich gab es recht viele Berichte zu Ausbildungs- und Hochschulthemen, die speziell für Leute in diesem Alter interessant waren, aber abgesehen davon war die Alterslimite Blödsinn. Als Test habe ich hier den «Toaster» 3/93, Seite 9 bis 16 (entspricht umfangmässig dem WoZ-Auslandbund): ein Rundgang durch die damals stark von der Drogenszene geprägten Kreise 3 und 4; das Kinder- und Jugendtheaterfestival «Blickfelder»; das erste Comicbuch von Chrigel Farner; Probleme des Frauenkinos Xenia; Living Colour, GSoA-Sampler; 60s-Untergrund, Einstürzende Neubauten; Indiecharts (lange her, hä?); schöne und ausführliche Platten- und Veranstaltungstipps. Lauter Sachen, die ohne Problem auch Leute über 26 interessieren können und mir als in der Ostschweiz verzweifelnde Dreizehnjährige wie die weite Welt vorkamen. Von den Themen her lag der «Toaster» damals gar nicht so weit weg von «.RF» heute, und da käme auch niemand auf die Idee, eine Alterslimite draufzuschreiben.

(Kurzer Seitenhieb gegen jene, die das Eingehen des «Toaster» diesen Winter so laut beklagt haben: Der «Toaster» war am Ende wirklich unter jedem Hund, und zwar dermassen, dass es wirklich nicht mehr schade war um ihn. Leider habe ich keine Exemplare der letzten Jahre vor mir, um zu beweisen, dass die Texte immer kürzer und kürzer wurden. Vom Inhalt reden wir jetzt gar nicht. Und sagt jetzt nicht, das habe am fehlenden Geld gelegen. War das Umstellen auf Magazinformat etwa gratis? Haben die Leute etwa extra schlecht und extra oberflächlich geschrieben, um von der Stadt mehr Geld zu erpressen? Und überhaupt: Es gab doch zwischen ca. 1968 und 1994 massenhaft Zeitungen, Zeitschriften, zusammengeheftete Flugis und so weiter, die von Leuten produziert wurden, die einfach anfingen, ohne auf Geld zu warten, weil es ihnen wichtig genug war. Das Zeug kann heute alles im Sozialarchiv bestaunt werden. Und: Noch nie standen den «Jugendlichen», wie immer mensch sie definiert, so viele Computer, Farbdrucker, Scanner, digitale Kameras usw.zur Verfügung wie heute. Wer etwas produzieren will, kann das heute so einfach wie noch nie. Aber offenbar hat mensch mit mehr technischen Möglichkeiten noch nicht automatisch etwas zu sagen. Offenbar besteht das Bedürfnis gar nicht.) Ich habe die WoZ abonniert, seit ich fünfzehn bin (ja, ich weiss, ich bin nicht normal! Aber wer für Normale schreiben will, soll zum Tagi gehen!), und all die Jahre gelesen, ohne so etwas wie eine Jugendseite zu vermissen, im Gegenteil, sie hätte mich schon damals sauer gemacht. Also schreibt doch einfach gute Texte über interessante Themen für alle, ob sie 15 oder 85 sind. Danke.

Nachtbuch Sonntag, 26. Mai

Delirierende Notizen über das Beilagenmachen (unverändert)

22 Uhr beim Kühlschrank: Soll ich das Coop-Naturaplan-Zwetschgenjogurt essen? Oder den Apfel daneben? Aber wenn das jetzt das Mittagessen von x? Für den Montag? Das linke Bewusstsein hält mich davon ab ...

Wir arbeiten für euch zu jeder Tages- und Nachtzeit. Zum Beispiel jetzt. Das Korrektorat ist das letzte Glied der Produktionskette. Fast ebenso schlimm dran ist das Layout. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass Layouter Georgs Tagebuch im Februar ausschliesslich aus Bildern bestand. Leider habe ich keine Digitalkamera. Während die RedaktorInnen ein paar Tage vorher wissen, was sie schreiben müssen (bei Beilagen sogar ein paar Wochen vorher), und das innerhalb dieser Frist tun können, wann sie wollen, zum Beispiel am Sonntag um fünf Uhr morgens, müssen wir (gestrichen) besteht unsere Frist in dem (gestrichen) zwischen dem Zeitpunkt, wenn die RedaktorInnen ihre Texte abliefern, und dem Zeitpunkt, wenn das Ganze in der Druckerei sein soll (gestrichen) muss. Der erste Zeitpunkt ist theoretisch fix, der zweite praktisch. Das heisst (bricht ab)

Tagebuch Montag, 27. Mai 2002

... das heisst, dass sich der erste Zeitpunkt beliebig verzögern kann, weil die WoZ-Produktion (d.i. Layout und wir) auch nach zwanzig Jahren kein verlässliches Mittel gefunden hat, die Redaktion zu zwingen, die Texte rechtzeitig abzuliefern. Als ich noch nicht einmal im Kindergarten war und die Nachbarkids «99 Luftballons» gesungen haben, hat die Produktion also schon nach einem verlässlichen Zwangsmittel gesucht, und sie sucht immer noch ... Das heisst, da sich der zweite Zeitpunkt nicht verzögern darf, dass die Frist zwischen den beiden Zeitpunkten auf null oder sogar unter null schrumpfen kann (dann verzögert sich der zweite Zeitpunkt doch, und dann müssen wir die Druckerei für die Verzögerung zahlen, und in schlimmen Fällen kommt die WoZ zu spät zur Post und ist am Donnerstag nicht bei den AbonnentInnen). Wie ihr seht: WIR (die Produktion) KÖNNEN NICHTS DAFÜR. Für die NormalWoZ ist der zweite Zeitpunkt am Mittwoch um 16.00 Uhr, für die schöne und informative Musikbeilage, die ihr am Donnerstag (hoffentlich) im Briefkasten haben werdet, war der Zeitpunkt heute Morgen um 9.30 Uhr, und wenn ich gestern um 22 Uhr noch am Lesen des Leitartikels bin, dann schrumpft die Frist zwar nicht auf null, aber auf Nacht, mit leerem Magen im Dunkeln, und ausserdem wohne ich in Winti, und dann ist es ja verständlich, dass mir Formulierungen wie «das letzte Glied der Produktionskette» einfallen, und mehr sage ich jetzt nicht, sonst werde ich noch sauer, nur noch dass ich nachts um 23.30 Uhr ein paar Turnschuhe und PET-Flaschen aus dem Fenster geschmissen habe (ja, ich war das). Ich bin für mein Alter schon fast beängstigend vernünftig, sogar bei Wutanfällen verwende ich nur bruchsicheres Material, ein Mitglied der Familie Monster hat mir heute einen Unvernünftigkeitskurs angeboten, um das zu kurieren, gegen Bezahlung selbstverständlich, was eine Frechheit ist, die Familie Monster ist es schliesslich, die in 80 Prozent der Fälle nicht rechtzeitig abliefert!

Die Verwirrungen um die Beilage fingen schon am Donnerstag an, am Abend fing es grauenhaft an zu stinken im Büro, es roch sehr beunruhigend nach geschmolzenem Kunststoff, und da ich sowieso schon paranoid veranlagt bin, eine Folge des übertriebenen Koffeinkonsums, wollte ich schon das Büro evakuieren, als unser Werber Sämi merkte, dass in seiner Lampenschale ein paar hundert Motten vor sich hinschmolzen. Die Motten schwirren zurzeit zu tausenden an der Limmat herum, sie leben angeblich nur einen Tag, und am Abend dieses Tages gehen sie in die Tonimolkerei, sagt Fredi von der Szene. Oder in Sämis Lampe.

Tagebuch Dienstag, 28. Mai 2002

Ich lese im Moment «Island» von Aldous Huxley, seinen letzten Roman, im Gegensatz zu «Brave New World» eine positive Utopie und darum logischerweise viel weniger bekannt. Auch nicht so leicht anzunehmen, weil wir bekanntlich viel besser wissen, was wir nicht wollen, als was wir wollen (hat das jetzt Rudi Dutschke oder Dani Cohn-Bendit gesagt? Oder beide? Und weiss Letzterer inzwischen, was er will? Einige von seinen Kumpels haben es doch noch herausgefunden - es tut ihnen offenbar nicht gut. Bleiben wir lieber beim Nichtwissen). In «Island» geht es um eine kleine Insel in Südostasien, auf der Leute leben, die weder auf Kapitalismus noch auf Leninismus Lust haben, sondern vor allem mit Gartenbau, Geburtenkontrolle, Sex, Yogaritualen (da hätte unser Religionsfeind Michael vom Abschluss etwas dagegen) und halluzinogenen Pilzen (da hätte unser abstinenter Buchhalter Christoph etwas dagegen - siehe Tagebuch der letzten Woche) beschäftigt sind. Bedroht werden sie von einer hässlichen Militärdiktatur gleich daneben, und natürlich ist der 18-jährige Thronfolger (warum zum Teufel haben sie die Monarchie nicht abgeschafft?) grausam fasziniert von dieser Staatsform, weil er hauptsächlich im Ausland von seiner durchgeknallten mystizistischen Mutter erzogen wurde, deshalb das auf der Insel übliche Liebesyoga nicht lernen konnte und verklemmt und prüde geworden ist ... und deshalb Ersatz sucht bei geilen Uniformen ... So weit sehr sympathisch, auch die Verbindung zwischen kapitalistischer Warenproduktion und Kriegsindustrie wird sehr schön gezeigt, ich weiss nicht, ob das damals (1962) schon militärisch-industrieller Komplex genannt wurde. Bei den Details wirds dann aber schwierig, vor allem bei der Konditionierung von Kindern, die als potenziell sadistisch, machtgeil usw.angesehen werden (die biochemischen Erklärungen dazu sind inzwischen auch überholt, ausser für «Weltwoche»-Chefredaktor Roger Köppel), die «transformed into a crop of useful citizens» werden. (Hier gibt es Parallelen zu «Transfer» von Stanislaw Lem, wo die Leute mit chemischer Behandlung unfähig gemacht werden, Gewalt anzuwenden - was die Folgen davon sind … das sind alles extrem wichtige Fragen und Denkansätze, gerade für Linke ...)

Und noch etwas, dem Huxley nicht ausweicht und das mich überhaupt bewogen hat, hier auf dieses Buch einzugehen: die Frage, ob glückliche, sexuell zufriedene, unentfremdete Menschen gute Literatur produzieren können. Diese Frage beschäftigt mich unausgesprochen schon länger. Der Roman meint: Nein. (Familie Monster übrigens auch. Nichts ist so inspirierend wie Blocher und SVP, Katholizismus und Sexualneurosen, Schellenberg und Rosenkranz. Was würde ein Monster sonst den ganzen Tag tun?) Und nachdem ich eine Weile darüber nachgehirnt habe, komme ich zum Schluss, dass ich zuerst dafür schauen sollte, dass es mehr glückliche, sexuell zufriedene, unentfremdete Menschen gibt - also auf zur Aktion bzw. Agitation - und wenn wir das dann erreicht haben und die Literatur tatsächlich Scheisse ist, können wir immer noch basisdemokratisch eine Lösung finden ... Aber wenn schon die WoZ auf dieser Insel so viel zu motzen hätte, ist es wohl sowieso unrealistisch …

Das Ganze ist natürlich ein Thesenroman, und das wird dadurch gelöst, dass der Besucher aus dem Westen einen grossen Teil des Buches verletzt im Bett liegt und ihm seine BesucherInnen erzählen, wie es auf der Insel so läuft - ist aber sehr unterhaltsam und natürlich spannend, ob die Militärmieslinge die Insel jetzt bekommen oder nicht …

PS: Morgen wirds ernst!

Tagebuch, Mittwoch, 29. Mai 2002

Anmerkung der Online-Redaktion: Statt eines Textes erreichte uns folgendes ernste Bild: