WOZ 21/95 (26. Mai 1995): Ein europäisches Netz unabhängiger Medien
Eingeladen hatte die WoZ zusammen mit der SJU (Schweizerische Journalistinnen- und Journalistenunion) letzten Freitag zu einem Podiumsgespräch zum Thema «Unabhängige Medien in Europa»; Aufhänger war die Lancierung der deutschsprachigen Ausgabe von «Le Monde diplomatique». JournalistInnen aus vier Ländern zeigten auf, welche Vorstellungen hinter der französischen Monatszeitung und ihrer Verbreitung in anderen Sprachen stecken.
Rund hundertzwanzig Interessierte fanden sich in der Kanzleiturnhalle ein. Kein Streitgespräch war angesagt , denn die Leute auf dem Podium sind durch «Diplo», wie das Pariser Weltblatt auch genannt wird, verbunden. Vielmehr sollten in einer Tour d horizon durch die Medienlandschaft Europas RedaktorInnen von vier, in ihrer Berichterstattung unabhängigen Zeitungen ihre Geschichte und ihr mediales und politisches, Umfeld in Bezug zur gegenseitigen Zusammenarbeit setzen auf der Schiene eben von «Le monde diplomatique» der, «internationalen Zeitung französischer Sprache», dem Blatt mit dem altmodischen Titel, an dem sich die LeserInnen aber nicht stossen, wie sein Redaktor Jacques Decornoy versicherte.
Was über den Inhalt des Vorgetragenen hinaus nachklingt, ist der Eindruck, an einem bedeutsamen medialen Ereignis teilgehabt zu haben. Der Auftritt der Journalistlnnen aus Frankreich, Italien, Deutschland und der Schweiz war ein Abbild dessen, worum sich «Le Monde diplomatique» in der Vielfalt der präsentierten Geschichten aus allen Ecken der Welt selbst bemüht: JedeR war als Botschafterln der eigenen, ganz spezifischen Kultur erkennbar und legte den eigenen Blick auf die Welt und damit die eigene mögliche Voreingenommenheit im Betrachten und Kommentieren des Geschehens offen. Allen gemeinsam war das Bekenntnis zur Differenzierung, die erst das Verständnis des andern ermöglicht, aber auch die Zurückhaltung, den LeserInnen/ZuhörerInnen nicht Rezepte zu diktieren, sondern im besten Fall Einsichten in die eigene Situation zu vermitteln.
Wie als Beweis dafür, dass die Übertragung von «Le Monde diplomatique» in andere Sprachen eine richtige Antwort auf die Marktansprüche der Medienzaren aus Europa, Australien, Japan und den USA ist, konnte die Arbeit der Dolmetscherin Maria Helena Nyberg erlebt werden: Ihre Texte repetierten das Gesagte nicht bloss, sondern bildeten bei aller Texttreue neue Botschaften - Übertragungen eben fremder Gedanken ins vertraute Idiom.
Roger Blum, Medienprofessor an der Universität Bern
«Die europäische Medienrealität ist geprägt durch die Dominanz des Fernsehens, die Dominanz grosser Konzerne und die Dominanz der Überparteilichkeit. Wir leben im Zeitalter des Fernsehens. Für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ist das Fernsehen das Leitmedium geworden, sowohl für die Unterhaltung als auch für die Information. Selbst die politische Information beziehen die meisten Menschen in den westeuropäischen Staaten aus dem Fernsehen. Das Fernsehen aber ist das Medium der Bewegung, der schnellen Wechsel, der kurzen Sentenzen, der packenden Bilder, der Authentizität und der Emotionalität, und fällt die dadurch erzeugte Spannung einmal ab, zappen die Leute weg. Die weitere Digitalisierung, die Möglichkeit des interaktiven Fernsehens im communication superhighway, wird noch mehr dazu führen, dass sich die Leute nur noch das holen, was sie gerade brauchen, häppchenweise.
Inmitten dieser Medienrealität passiert nun Erstaunliches: Vier Medienhäuser verfolgen ein gleiches Ziel, und dieses Ziel ist kein Fernsehprogramm, keine Videoproduktion, kein Internetprojekt, es ist eine Zeitschrift mit viel Text, mit analysierenden, erläuternden, vertiefenden Artikeln. Diese vier Medienhäuser bringen in ihren Ländern den Monde diplomatique auf den Markt, und sie erwarten von den Leuten, dass sie hinsitzen und lesen, lesen, lesen. Es sind vier Zeitungen, die fast werbeunabhängig arbeiten. Man darf vermuten, dass journalistische Überlegungen wichtiger waren als kommerzielle, was in der heutigen Mediengrosswetterlage, untypisch ist.»
Jacques Decornoy, Redaktor von «Le Monde diplomatique», Paris
«Vielleicht ist diese Begegnung wichtiger, als man es sich vorstellt, weil eine solche meines Wissens zum ersten Mal in Europa stattfindet. Es ist gleichsam der offizielle Geburtsakt eines neuartigen Netzes in Westeuropa, eines Netzes, das spontan geschaffen wurde und nicht von den Gesetzen des Geldes diktiert, des Marktes und der Werbung. Es ist zunächst der Versuch eines gemeinsamen Nachdenkens mit dem Ziel, über die Aufgabe des Informierens aufzuklären.
Le Monde diplomatique ist zunächst eine Zeitung, die die vorherrschende Philosophie unseres Zeitalters zurückweist, nämlich die Philosophie des Konsenses. Wir alle werden durch die mächtigen Medien, durch die politische Klasse fast aller Tendenzen, durch die sogenannten Sachzwänge des Marktes, der europäischen und der Weltökonomie, unaufhörlich aufgefordert, uns im Namen, dieses Konsenses zu einigen, und dieser Widerstand soll in unserer Art des Informierens - seinen Ausdruck finden.
Eine freie Information ist noch nicht unbedingt eine gute Information. Dazu braucht es unserer Ansicht. nach die Ablehnung der atomisierten, fragmentierten Information, einer Information, die die Realität in kleine Scheiben aufschneidet und sich nicht darum bemüht, ein globales Bild der Realität zu vermitteln.
Information muss dazu dienen, den Menschen zu helfen, bewusstere Staatsbürgerinnen und Staatsbürger zu werden und frei, aber in Kenntnis der Sache zu handeln. Sie soll ihnen helfen, die Welt, in der sie leben, besser zu verstehen, um sie gegebenenfalls verändern zu können, helfen, sich von den zu erwartenden Krisen nicht überraschen zu lassen, damit sie ihr Heil nicht in totalitären oder archaischen Lösungen suchen oder sich auf sich selbst zurückziehen.»
Angela Pascucci, Redaktorin bei «il manifesto», Rom
«il manifesto ist gegründet worden von einigen Abgeordneten, politischen Kadern und Militanten, die Ende der sechziger Jahre aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen wurden. Die Partei akzeptierte die schwerwiegende Kritik am Sowjetsystem, am realexistierenden Sozialismus des Ostblocks nicht. Die radikale Kritik des realen Kommunismus und die Suche nach einem antitotalitären Kommunismus, der die Menschen befreit, aber auch die besondere Aufmerksamkeit für soziale Bewegungen, vor allem den Feminismus, sind die Grundzüge, die il manifesto über die Jahre, hinweg begleiten und ihm bis heute Glaubwürdigkeit und Respekt verschaffen.
Wir leben in einer Welt, die durch die ausser Kontrolle geratene Globalisierung erschüttert ist, in der die Menschen durch Arbeitslosigkeit, Ressourcenzerstörung, Finanzspekulation, wachsenden Rassismus und den Triumph einer TV-Kultur, die das Denken, austrocknet, niedergedrückt werden. Sie neigen dazu, sich auf sich selbst zurückzuziehen und einer Politik zu misstrauen, die sie nicht mehr repräsentiert, sondern gerade wegen des Fernsehens nur noch sich selbst repräsentiert und zum virtuellen Spiel verkommen ist. Eine Information, die nicht zum Spektakel werden will, die immer noch den Anspruch hat, den Menschen zu helfen, sich selbst zu befreien, ist schon eine enorme Herausforderung geworden.»
Marie-Luise Knott, Redaktorin des «Le Monde diplomatique» bei der taz, Berlin
«Wir glauben, dass im Rahmen der Superinformation das von Hannah Arendt so benannte Verschwinden des Politischen eine reale Gefahr geworden ist. Man muss zunehmend durch das Fragen und Hinterherrecherchieren den Raum des Politischen innerhalb einer Zeitung neu kreieren. Bei unserem Entscheid für Le Monde diplomatique erschien uns eine Überlegung sehr wichtig: Je schwieriger es ist, politisch in einem Wohlfahrtsstaat zu verweilen, desto mehr wird der Blick aufs Nationale beschränkt - vielleicht reicht er gerade noch nach Europa. Desto wichtiger er-schien es uns, eine Zeitung zu machen, die den Blick nach aussen wendet, sehr viele Winkel dieser Welt ausleuchtet, die gewöhnlich im Dunkel bleiben.»
Marie-Josée Kuhn, Redaktorin der «WochenZeitung», Bern
«Unabhängigkeit kostet. Um das zu veranschaulichen: mich als Redaktorin mehr als die Hälfte eines Einkommens, das ich zum Beispiel bei Tages-Anzeiger, Weltwoche oder anderen bürgerlichen Medien haben könnte.»
Züri brännt heute nicht mehr; mit phantasievollen, sozialen Bewegungen sind wir auch nicht gerade reich beschenkt. Trotzdem gibt es Prinzipien, die für die WoZ heute immer noch gelten. Ich würde sagen, die WoZ ist weniger hysterisch als die anderen Medien. Wir können uns «quere» Themen leisten, quer im Sinne von Nicht-Mainstream-Themen. Zum Beispiel ist in unserer Auslandberichterstattung die Dritte-Welt-Berichterstattung genau wie in Le Monde diplomatique - ein unverzichtbarer Schwerpunkt. Ein weiterer Schwerpunkt sind die sogenannten Geschlechterthemen. Diese haben wir lange vor dem Frauenfrühling in der Zeitung gehabt - und darin liegt vielleicht auch der grösste Unterschied zu Le Monde diplomatique.»